"Wir wollen zeigen, was erfolgreiche Integration ausmacht." , , Die Projektleiter der Wanderausstellung "Deutsche aus Russland. Geschichte und Gegenwart" im Interview
Seit 1982 erinnert am 28. August der Gedenktag der Russlanddeutschen an die Deportation der Deutschen in der Sowjetunion während des Zweiten Weltkrieges. Zu den Russlanddeutschen zählen auch die Spätaussiedlerinnen und Spätaussiedler, die eine spezielle Zielgruppe der Integrationsförderung durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) darstellen. Ein Projekt, welches diese Förderung bereits seit fast 30 Jahren erhält, ist die Wanderausstellung "Deutsche aus Russland. Geschichte und Gegenwart". Organisiert und kuratiert durch die Landsmannschaft der Deutschen aus Russland e. V. (LmDR), war die Ausstellung bundesweit bereits in hunderten Städten zu Gast. Mit Hilfe von Schautafeln, einer Website, Kurzfilmen, Lesungen und Seminaren informiert das Projekt über die deutschen Spätaussiedlerinnen und Spätaussiedler aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion und ihre Geschichte. Im Interview sprechen die beiden Leiter des Projekts, Christian Sprenger und Dr. Eugen Eichelberg, mit dem BAMF darüber, was für sie die Arbeit mit der Ausstellung ausmacht und warum die geschichtliche Aufarbeitung wichtig ist.
Die Wanderausstellung "Deutsche aus Russland. Geschichte und Gegenwart" wird seit fast 30 Jahren vom Bundesamt gefördert. Welche Ziele verfolgt das Projekt seitdem?
Quelle: © LmDR
Sprenger: Wir möchten mit der Ausstellung heute wie damals ein niedrigschwelliges Bildungsangebot schaffen, um über die Geschichte der Deutschen aus Russland zu informieren. Zum einen möchten wir über die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte, den eigenen Wurzeln zum Empowerment der Community und ihrer Mitglieder beitragen. Zum anderen möchten wir die Geschichte der Spätaussiedelnden im kollektiven Gedächtnis der Gesellschaft verankern.
Oft kommen die Menschen mit wenig Vorwissen in die Ausstellung. Viele starten bei dem Thema bei null. Wenn man sich das Ganze als Comic vorstellt, sieht man förmlich wie über den Köpfen beim Betrachten der Infotafeln Glühbirnen aufleuchten. Genau das möchten wir erreichen: das Interesse der Menschen wecken, sie dort abholen, wo sie stehen und Schnittmengen und geteilte Erfahrungen aufzeigen.
Eichelberg: Indem wir mit der Ausstellung Wissen vermitteln und aufklären, wollen wir auch den Vorurteilen gegenüber Deutschen aus Russland etwas entgegensetzen.
Wir zeigen Parallelen auf und beleuchten die Hintergründe. Das bewahrt nicht nur die Traditionen und Erinnerungen innerhalb der Community, sondern stärkt auch das Verständnis für die Deutschen aus Russland in der breiten Bevölkerung.
Die Ausstellung wird jährlich an 60 bis 70 Orten deutschlandweit gezeigt. Was macht die Aktualität und Relevanz des Themas aus?
Sprenger: Gerade zu Beginn des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine im Frühjahr 2022 haben wir gemerkt: Das Thema "Deutsche aus Russland" wurde immer wie eine heiße Kartoffel angefasst. Uns sind vermehrt Vorurteile begegnet, wir haben vermehrt Absagen von Ausstellungsorten bekommen und es ist noch einmal deutlich geworden, wie wenig Wissen über Spätaussiedelnde vorherrscht.
Wenige wissen beispielsweise, dass dies auch Menschen sind, die auf demselben Gebiet gesiedelt haben, das nun von Russland angegriffen wird. Und oft mussten wir erklären: Ja, in dem Begriff "Russlanddeutsche" steckt das Wort "Russland". Aber nein, das bezieht sich nicht auf die heutige Nation, sondern auf das frühere russische Reich.
Wir erleben da eine gewisse Kontinuität: Anfang der 90er Jahre als die ersten Spätaussiedelnden nach Deutschland kamen, titelten die Zeitungen "Die Russlanddeutschen kommen". Heute werden Deutsche aus Russland in den Medien vor allem zitiert und sichtbar gemacht, wenn es um Probleme geht. Wir erleben immer noch eine eher negative Berichterstattung, aus der sich immer ein Rechtfertigungsbedürfnis ergibt. Man muss und möchte sich erklären. Hier versuchen die LmDR und das Projekt anzusetzen und aufzuzeigen, was die tatsächlichen historischen Hintergründe sind und was lediglich stereotypischem Denken entspringt.
Diese Aufklärungsarbeit und Wissensvermittlung findet auch zunehmend digital statt. Wie entwickelt sich das Projekt im virtuellen Raum weiter?
Quelle: © LmDR
Eichelberg: Vor der Pandemie haben wir viel mehr vor Ort ausgestellt. Gerade während der Pandemie haben wir versucht, die Ausstellung stärker zu digitalisieren. Dank der Förderung konnten wir das Projekt deutlich weiterentwickeln.
Wir veranstalten mittlerweile auch regelmäßig gut besuchte Onlineseminare und laden dann zum Beispiel Forscherinnen oder Forscher ein. So erreichen wir viele verschiedene Leute. Ältere Menschen, die selbst Zeitzeugen der Deportationen sind, die Ausstellung nicht vor Ort besuchen können und die dann natürlich auch viel zu diesen Formaten beitragen können, indem sie ihre eigene Geschichte erzählen. Aber auch jüngere Leute, die vorher noch gar nicht mit dem Thema in Berührung gekommen sind. Wir bekommen aber auch weiterhin Anfragen von Städten, Kirchen, Schulen und Stadtbüchereien, die die Ausstellung gern für eine Zeit zu sich holen möchten.
Sprenger: Wir möchten das Projekt auf jeden Fall weiter digitalisieren. Wir können über Videos, Kurzfilmreihen und Interviews noch einmal ganz andere Aspekte erzählen. Über QR-Codes können wir so beispielsweise sehr einfach Zusatzmaterialien zur Vertiefung anbieten. Dabei wollen wir die Besichtigung der Ausstellung aber auch nicht aus dem Blick verlieren. Wir möchten das Virtuelle mit dem Erleben vor Ort noch stärker verbinden und in Einklang bringen.
Digital und vor Ort – Wie kommt die Ausstellung zu ihrem Publikum?
Sprenger: Wir sind sehr offen, was die Ausstellungsorte betrifft. Das kann gern ein Rathaus sein. Dadurch wird dann natürlich eine gewisse Öffentlichkeitswirksamkeit hergestellt. Aber das sind auch ganz häufig Gemeindezentren, Begegnungsorte, Schulen und Kirchen.
Eichelberg: Glücklicherweise können wir bundesweit auf ein Netzwerk von Ehrenamtlichen der LmDR zurückgreifen. Über sie finden wir an vielen Orten einen geeigneten Platz für die Ausstellung und haben die notwendigen Kontakte zu den Organisationen vor Ort. Die Ehrenamtlichen holen die Ausstellung quasi zu sich. Sie können so ihren Nachbarn und Kolleginnen ihre Geschichte – die Geschichte der Deutschen aus Russland – zeigen und präsentieren, was bisher wenig bekannt ist und wenig aufgearbeitet wurde. Das stärkt auch die eigene kulturelle Identität.
Die Ausstellung besteht allerdings nicht nur aus Infotafeln. Was macht das Projekt zum Austauschort?
Sprenger: Es gibt immer auch ein Programm rund um die Ausstellung. Auch hier greifen wir wieder auf lokale Akteure und die Ortsgruppen zurück: Sie wissen am besten, wie man die Leute vor Ort anspricht und für die Ausstellung begeistert. Denn eines ist klar: Einfach die Ausstellung hinzustellen und zu warten, bis Menschen sie bemerken, funktioniert nicht. Wir versuchen durch Zeitzeugengespräche, Lesungen, ein musikalisches oder kulturelles Rahmenprogramm auch eine breitere Öffentlichkeit anzusprechen. Wir möchten damit ein möglichst niedrigschwelliges Angebot machen. Die Schautafeln enthalten viel Text und viele Informationen. Das kann mühsam sein. Wenn aber eine Zeitzeugin oder ein Zeitzeuge persönliche Erfahrungen schildert, dann spricht das die Menschen noch einmal auf einer ganz anderen, viel emotionaleren Ebene an und motiviert viele, einfach mal bei uns vorbeizuschauen.
Eichelberg: Die Zeitzeugen erzählen von ihrem Weg und dem Ankommen in Deutschland. Wir wollen zeigen, was erfolgreiche Integration ausmacht. Zeitzeugen sind da ein wunderbarer Weg. Wir erleben aber auch immer wieder, dass Eltern oder Großeltern mit ihren Kindern und Enkeln in die Ausstellung kommen und diese als Aufhänger nutzen, um die Familiengeschichte zu erzählen. Die Ausstellung bildet dann eine Brücke zwischen Geschichte, Gegenwart und Zukunft.
Im Rahmen des Projekts haben wir außerdem Videos produziert, die man sich auf unserer Website anschauen kann: Eine Kurzfilmreihe mit Zeitzeugengesprächen, einen längeren Film und verschiedene Zusammenfassungen. Diese zeigen wir bei Veranstaltungen natürlich auch.
Sprenger: Darüber hinaus gestalten wir auch Seminare oder Schulstunden zur Geschichte der Deutschen aus Russland. Dort vermitteln wir nicht nur geschichtliche Hintergründe zu den Deutschen aus Russland, sondern knüpfen aktiv an die Migrations- und Ankommenserfahrungen anderer Gruppen an. Das fördert das gegenseitige Verständnis.
Bekommen Sie das von den Besucherinnen und Besuchern der Ausstellung gespiegelt? Wie sieht das Feedback zum Projekt aus?
Sprenger: Wenn Menschen uns zurückmelden, dass sie etwas mitgenommen, etwas dazugelernt haben und wir den Auftakt für eine weitere Beschäftigung mit dem Thema „Deutsche aus Russland“ liefern konnten, dann freut uns das enorm. Es passiert immer wieder, dass wir nach Veranstaltungen Rückfragen bekommen, dass um weitere Literatur gebeten wird oder dass die Menschen der Landsmannschaft sogar beitreten. Wir haben da auch eine Mittlerrolle und können an die Ortsgruppen verweisen. Das ist ein wunderschönes Feedback für unsere Arbeit! Es bedeutet, dass wir die Leute abholen, sie erreichen und ihr Interesse wecken.
Die Ausstellung existiert seit rund 30 Jahren. Wie stellen Sie sich die Zukunft des Projekts vor?
Sprenger: Wir müssen und möchten uns immer weiterentwickeln und neue Möglichkeiten des Zugangs und der Vermittlung zu finden – digital, vor Ort, beides im Einklang. Gerade das Ausprobieren, das Kreative macht auch den Spaß an der Projektarbeit aus.
Dass wir diese Möglichkeiten haben, verdanken wir auch der Förderung des Bundesministeriums des Innern und für Heimat sowie des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge. Seit fast 30 Jahren wird die Wanderausstellung gefördert – das ist keine Selbstverständlichkeit. Das ist etwas ganz Besonderes. Das unterstreicht auf jeden Fall die Wertschätzung und das Anerkennen der Bedeutung, die das Thema für den gesellschaftlichen Zusammenhalt hat. Dafür möchten wir selbst als Projektleiter und im Namen der Landsmannschaft einen großen Dank aussprechen. Wir freuen uns über den produktiven, niedrigschwelligen Austausch und die gute Zusammenarbeit!
Das Interview mit den Projektleitern wurde am 19. Januar 2024 geführt.