"Es geht um sprachliche Handlungsfähigkeit"
, Datum: 04.06.2024, Format: Meldung, Bereich: Integration , BAMF-Referentin Dr. Barbara Thiel eröffnet die Ringvorlesung "Ankommen in Deutschland"

Der Rote Saal am Campus Regensburger Straße der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (FAU) ist gut gefüllt. Dr. Barbara Thiel eröffnet die Ringvorlesung "Ankommen in Deutschland" mit ihrem Vortrag "Orientierungsangebote des Bundes für Migrant:innen".

"Woran würden Sie ein Gefühl des ‚Angekommenseins‘ festmachen?", fragt die Referentin des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) in den Saal. Die Antworten reichen von "wohlfühlen" über "regelmäßig freundschaftliche soziale Kontakte haben" bis hin zu "in der Landessprache telefonieren können". In ihrem Vortrag thematisiert Thiel die vielen Dimensionen des Ankommens und stellt die Erstorientierungskurse (EOK) sowie die Kurse des Programms "Migrantinnen einfach stark im Alltag" (MiA) vor.

Im Gespräch erklärt sie zusammen mit der Organisatorin der Ringvorlesung, Prof. Dr. Magdalena Michalak, wie die Ausbildung von Lehrkräften, die praktische Umsetzung von Angeboten zum Ankommen in Deutschland und die Forschung in diesem Bereich ineinandergreifen.

Wie entstand die Idee, die Thematik des Ankommens in den Fokus einer Ringvorlesung zu setzen?

Prof. Dr. Magdalena Michalak: Der thematische Schwerpunkt ist dadurch entstanden, dass ich in meinen Vorlesungen und Seminaren gemerkt habe, dass sich die Vorstellung der zukünftigen Lehrkräfte von sprachlicher Förderung immer sehr stark auf die reine Sprachvermittlung konzentriert. Andere Elemente werden oft ausgeblendet. Beim Ankommen geht es aber eben nicht nur um Sprache, sondern auch darum, dass die Gesellschaft die Person aufnimmt und ein wechselseitiger Austausch entsteht. Für die Vorlesungsreihe war es mir daher wichtig, verschiedene Perspektiven einzubinden. Wir müssen über den Tellerrand blicken!

Dr. Barbara Thiel: Eine Ringvorlesung wie diese bietet die Chance, sich der Komplexität des Ankommens noch einmal bewusst zu werden, indem man sich dem Thema aus ganz unterschiedlichen Blickwinkeln nähert. Im Mittelpunkt des Abends standen zwei Angebote des BAMF, die Schutzsuchenden und Zugewanderten das Ankommen in Deutschland erleichtern können: die Erstorientierungskurse und die MiA-Kurse. In den Erstorientierungskursen geht es darum, Menschen, die gerade erst in Deutschland angekommen sind, alltagsrelevantes Wissen zu vermitteln. Dabei lernen sie auch, tagtägliche Situationen in deutscher Sprache zu bewältigen. In den MiA-Kursen richten wir uns speziell an zugewanderte Frauen. Die Kurse bieten einen leicht zugänglichen Raum, in dem sie beim An- und Weiterkommen in Deutschland unterstützt werden. Sowohl die Erstorientierungskurse als auch die MiA-Kurse erkennen an, dass Ankommensprozesse sehr facettenreich und individuell sind.

Kontakte knüpfen, sich wohlfühlen, Alltagskompetenz erlangen – Die Rückmeldungen der Zuhörerinnen und Zuhörer zeigen: "Ankommen" heißt nicht nur, die Landessprache zu beherrschen, sondern sie zu leben. Quelle: BAMF


Und wie nimmt sich die Ringvorlesung dieser verschiedenen Blickwinkel an?

Prof. Dr. Magdalena Michalak: Die Ringvorlesung beinhaltet viele praktisch orientierte Vorträge, die Lehramtsstudierenden in ihrer beruflichen Alltagspraxis helfen werden: Zum Beispiel stellt am 4. Juni Prof. Dr. Petra Bendel das Pilotprojekt Match’In vor, in dem ein Mechanismus zur Verteilung von Schutzsuchenden von den Bundesländern auf die Kommunen entwickelt wird. Dr. Stefan Hofherr wird wiederum am 26. Juni über Integration und Migration aus der Sicht junger Menschen referieren. Der letzte Vortrag der Ringvorlesung von Prof. Dr. Naima Tahiri, einer Kollegin der Universität Fez in Marokko, behandelt das Thema aus kulturwissenschaftlicher Perspektive: Was hat Sprache mit Identität zu tun? Was bedeutet es, Mehrsprachigkeit und damit auch zwischen den Kulturen zu leben?

Dr. Barbara Thiel:
Die EOK und MiA-Kurse sind sehr offene, flexible und bedarfsorientierte Angebote.


Dr. Barbara Thiel spricht mit Lehramtsstudierenden im Roten Saal am Campus Regensburger Straße der FAU. Bis zum 9. Juli 2024 können Interessierte hier die Vorträge der Ringvorlesung besuchen. Quelle: BAMF


Wenn Sie mit Lehrkräften sprechen, von welchen Herausforderungen erzählen sie Ihnen?

Dr. Barbara Thiel: Meist bekommen wir aus der Praxis zu allererst zu hören: die große Heterogenität in den Kursen und die hohe Fluktuation der Teilnehmenden. Die EOK und MiA-Kurse sind sehr offene, flexible und bedarfsorientierte Angebote. Das führt dazu, dass in den Kursen Menschen mit ganz unterschiedlichen Bildungsbiografien, Lebensgeschichten, Erwartungen und Wünschen zusammenkommen. Hiermit umzugehen, ist eine große Herausforderung. In den letzten Jahren lag einer unserer Schwerpunkte deshalb darauf, den Kursen konkretes Unterrichtsmaterial zur Verfügung zu stellen, das dabei hilft, das Kursgeschehen differenziert zu gestalten. Dennoch muss sich jede Lehrkraft auf diese besonderen Umstände des Unterrichtens immer wieder einlassen. Für manche scheint auch genau darin der Reiz zu bestehen. Jeder Kurstag ist anders und nicht bis ins letzte Detail planbar.

Prof. Dr. Magdalena Michalak:
Es geht nicht nur um Grammatik und Wortschatz, sondern um sprachliche Handlungsfähigkeit.


Worin liegt der Mehrwert, wenn sich Ihre Studierenden mit dem EOK oder MiA-Kurs auseinandersetzen?

Prof. Dr. Magdalena Michalak: Dadurch, dass die Studierenden die Kurse jetzt kennengelernt haben, sehen sie, dass es wichtig ist, Vertrauen aufzubauen und Beziehungen herzustellen. Die Studierenden konnten durch den Vortrag von Frau Dr. Thiel noch einmal ihre eigene zukünftige Rolle reflektieren. Sie müssen sich bewusst werden: Ich lehre nicht nur Sprache, ich begleite auch und bin Ansprechperson, in allen Angelegenheiten, privaten und schulischen. Es ist wichtig, dass sie merken, dass es nicht nur um die Vermittlung von Wörtern und Grammatik geht. Es geht nicht darum, abzuhaken, wie viele Seiten und Arbeitsblätter ich geschafft habe, es geht um den Dialog. Lernen bedeutet auch für die Lehrkräfte: Es geht nicht nur um Grammatik und Wortschatz, sondern um sprachliche Handlungsfähigkeit.