20 Jahre Zuwanderungsgesetz ,
ahezu unbemerkt jährte sich im August zum zwanzigsten Mal die Verkündung des – wie es ausführlich heißt – Gesetzes zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern (Zuwanderungsgesetz).
Obwohl für die meisten Vorschriften der 1.1.2005 als Inkrafttretensdatum vorgesehen war, zeigt doch die Tatsache vorgezogenen Inkrafttretens der Vorschrift zur Konzeption der Integrationskurse und der damit verbundenen Zuständigkeit des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge, dass nicht noch weitere Zeit für dieses zentrale Projekt der rot-grünen Bundesregierung verloren gehen sollte.
Das Zuwanderungsgesetz wird gemeinhin als Paradigmenwechsel der Migrationspolitik verstanden. Bereits im Juni 2000 wurde die Unabhängige Kommission Zuwanderung (UKZu) unter Leitung der ehemaligen Ministerin der CDU/CSU/FDP-Regierung und ehemaligen Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth eingesetzt. Stellvertretender Vorsitzender war der ehemalige SPD-Justizminister Hans-Jochen Vogel. Die UKZu hatte den Auftrag, binnen neun Monaten konkrete Empfehlungen für eine künftige Zuwanderungspolitik zu erarbeiten. Sie sollte untersuchen, wie der Zuwanderungsbedarf ermittelt und die Zuwanderung gesteuert und begrenzt werden kann und Vorschläge unterbreiten, wie Missbräuchen begegnet und Asylverfahren verkürzt werden können. Außerdem sollte sie ein Konzept zur Integration vorlegen und Vorschläge zur organisatorischen, institutionellen und rechtlichen Umsetzung der Empfehlungen unterbreiten. Die Geschäftsstelle wurde im Bundesministerium des Innern eingerichtet und ein weiteres Büro wurde im Bundesamt in Nürnberg – das damals noch Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge hieß – zur Verfügung gestellt. Das Bundesamt unter Leitung von Präsident Albert Schmid begleitete und unterstützte den Prozess logistisch und personell. Am 4.7.2001 legte die Kommission ihren Bericht "Zuwanderung gestalten – Integration fördern" vor. Im Vorwort betonte Prof. Süssmuth, dass Deutschland faktisch ein Einwanderungsland ist und Zuwanderung zu einem zentralen öffentlichen Thema geworden ist. Außerdem betonte sie, dass Zuwanderung nicht ohne Integration der schon länger bei uns lebenden und der neu zu uns kommenden Menschen gelingen kann.
Innenminister Schily setzte die meisten Empfehlungen um (und ergänzte sie um Sicherheitsvorschriften, die aus dem Anschlag in New York am 11.9.2001 resultierten), so dass bereits im Herbst 2001 ein Gesetzentwurf ins parlamentarische Verfahren gegeben wurde und am 26.6.2002 das Gesetz verabschiedet werden konnte. Hauptneuerungen waren zum einen ein gänzlich neues Aufenthaltsgesetz (statt dem alten Ausländergesetz) mit weniger Aufenthaltstiteln, das sich stärker an den Aufenthaltszwecken orientierte. Erstmalig wurde die Integration von auf Dauer ansässigen Drittausländern in einem Bundesgesetz geregelt, wobei das Hauptinstrument der Integrationskurs (bestehend aus einem Basis- und Aufbausprachkurs und einem Orientierungskurs) war. Als Inkrafttretenszeitpunkt war der 1.1.2003 vorgesehen. Da allerdings Unregelmäßigkeiten bei der Abstimmung im Bundesrat auftraten, erklärte das Bundesverfassungsgericht am 18.12.2002 das Gesetz für nichtig. Die Bundesregierung brachte das Gesetz im Frühjahr 2003 wortgleich wieder im Bundestag ein. Erst im „2. Anlauf“ gelang es dann, das Gesetz über alle parlamentarischen Hürden zu bringen, wobei im parlamentarischen Verfahren noch Änderungen erfolgten. Am 5.8.2004 konnte es im Bundesgesetzblatt verkündet werden.
Das Gesetz umfasste als Artikelgesetz 15 Artikel, die von einem gänzlich neuen Aufenthaltsgesetz und dem Freizügigkeitsgesetz/EU sowie Änderungen u. a. im Bundesvertriebenengesetz, Staatsangehörigkeitsgesetz, Asylverfahrensgesetz und Asylbewerberleistungsgesetz bis hin zu Änderungen im Dritten Buch Sozialgesetzbuch reichten. Wie schon erwähnt, waren die Hauptänderungen ein neues Aufenthaltsgesetz mit nur noch drei Aufenthaltstiteln (die inzwischen durch weitere Aufenthaltstitel aus EU-Recht wieder auf sieben angewachsen sind) und die erstmalige Einführung von Regelungen zur Integration von Drittausländern. Weitere Vorschläge der UKZu wie z. B. die Einführung eines Punktesystems nach dem Vorbild der USA oder Kanadas oder die Einrichtung eines Sachverständigenrats für Migration wurden nicht realisiert. Um – einer Empfehlung der UKZu folgend – die Fragmentierung und das Nebeneinander von Zuständigkeiten und Maßnahmen wenigstens auf Bundesebene zu beenden, wurde das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge als Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zentrale Migrationsbehörde des Bundes. Es wurde mit einer Vielzahl von Aufgaben betraut, neben der Konzeption und Organisation der Integrationskurse z. B. auch der Koordinierung der Information über den Aufenthalt zum Zweck der Erwerbstätigkeit, der Einrichtung eines Forschungszentrums zu Fragen der Migration und der Koordinierung der Programme zur Förderung der freiwilligen Rückkehr.
Im Laufe der zwei folgenden Jahrzehnte erfuhren die Regelungen des Zuwanderungsgesetzes und insbesondere das neue Aufenthaltsgesetz eine Vielzahl von Änderungen: Das Richtlinienumsetzungsgesetz von 2007 setzte nicht nur Vorschriften aus 11 Regelungswerken der EU um, sondern führte auch zu weiteren Änderungen, die u. a. auf einer Evaluierung des Gesetzes beruhten: Bereits im Juli 2006 war vom Bundesinnenministerium ein Bericht zur Evaluierung des Gesetzes vorgelegt worden, der auf einem Praktikeraustausch und Stellungnahmen von Bundes- und Landesministerien sowie von Verbänden beruhte. Im Dezember 2006 wurde ein Bericht zur Evaluation der Integrationskurse vorgelegt. Im Richtlinienumsetzungsgesetz wurde sodann das Kapitel 3 des Aufenthaltsgesetzes („Förderung der Integration“) grundlegend verändert: Das Prinzip des Förderns und Forderns wurde eingeführt, die Verpflichtungstatbstände erweitert und das Sanktionensystem neu gefasst. Eine weitere wichtige Fortschreibung des Aufenthaltsgesetzes war die Umsetzung der Hochqualifizierten-Richtline im Jahr 2012, mit der nicht nur die Blaue Karte EU als neuer Aufenthaltstitel in das deutsche Recht eingeführt wurde, sondern auch weitere Änderungen vorgenommen wurden, durch die Deutschland als Zielland für Fachkräfte attraktiver gemacht werden sollte (wobei es damals nur um die Gewinnung von Hochqualifizierten, also vorwiegend Akademiker, ging). Zudem wurde erstmals die Möglichkeit eröffnet, ohne Arbeitsplatzangebot zur Arbeitsplatzsuche nach Deutschland einzureisen. Auch dies wurde damals als ein kleiner Paradigmenwechsel verstanden.
Schließlich wurde durch eine Fülle von Gesetzen in den Jahren 2015 und 2016 versucht, den stark angewachsenen Zuzug von Geflüchteten durch Änderungen im Asylgesetz und Aufenthaltsgesetz zu bewältigen, z. B. durch die Fortschreibung der Liste sicherer Herkunftsstaaten. Die letzten Jahre waren dann wieder geprägt durch Initiativen zur Bewältigung der Fachkräftelücke, sei es durch die Umsetzung von EU-Richtlinien, die wieder zu weiteren neuen Aufenthaltstiteln wie der ICT-Karte führten, oder auch durch die großen Initiativen des Fachkräfteeinwanderungsgesetzes in der letzten Legislatur oder seine Fortschreibung durch das Gesetz zur Weiterentwicklung der Fachkräfteeinwanderung in dieser Legislaturperiode.
Im Rückblick von 20 Jahren lässt sich sehr gut erkennen, dass die Gesetze, die mit dem Zuwanderungsgesetz als großem Paradigmenwechsel ihren Anfang nahmen, auch die Schwerpunkte der Migrationspolitik in den letzten 20 Jahren widerspiegeln: Die nachholende Integration, die fortschreitende EU-Harmonisierung, das Erkennen einer Fachkräftelücke infolge des demographischen Wandels, die Bewältigung und Eingliederung von über 1,1 Mio. Geflüchteten 2015/16 und wieder die Gewinnung von Fachkräften, diesmal mit einem erweiterten Fachkräftebegriff. 2022 wurde nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine erstmals die Massenzustromsrichtlinie aktiviert und damit auch der 2005 im Zuwanderungsgesetz neu eingeführte § 24 AufenthG erstmals angewandt. Eine weitere durchgängig erkennbare Tendenz ist die stetige Erweiterung der Möglichkeiten eines punktuellen Spurwechsels, die in der Einführung des Chancen-Aufenthaltsrechts (§ 104 c AufenthG) ihren bisherigen Höhepunkt fand. Auch bei den Integrationskursen zeigte sich eine unterschiedliche Schwerpunktsetzung je nach aktuellen Herausforderungen, von der nachholenden Integration (mit der Möglichkeit der Verpflichtung für bestimmte Gruppen) über die schnelle Integration von Geflüchteten (z. B. mit der Einführung der Berufssprachkurse) bis hin zur Ermöglichung von Integrationskursen auch für Geduldete und Inhaber von Aufenthaltsgestattungen. Das deutsche Zuwanderungsrecht hat bewiesen, dass es schnell auf aktuelle Herausforderungen reagieren kann – es wird auch die anstehenden Herausforderungen, insbesondere im Aufenthalts- und Asylrecht (Stichwort GEAS) meistern, wenngleich es in seiner durch die vielen Reformen zunehmenden Komplexität für die Anwendenden immer schwerer handhabbar wird.
Dieser Beitrag von BAMF-Vizepräsident Dr. Michael Griesbeck ist als Editorial im Heft 10 2023 der Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik (ZAR), herausgegeben von der Nomos Verlagsgesellschaft, bei beck-online.erschienen.