Jahresrückblick 2021 ,
"Muslimisches Leben in Deutschland ist vielfältig" ,
Wie leben Musliminnen und Muslime in Deutschland heute? Welche Bedeutung hat Religion für sie - auch im Vergleich zu Menschen anderer Glaubensrichtungen? Und wie gut sind muslimische Personen in Deutschland integriert? Diese und weitere Fragen untersucht die Studie "Muslimisches Leben in Deutschland 2020".
Die Studie "Muslimisches Leben in Deutschland 2020" wurde vom Forschungszentrum des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) im Rahmen der gleichnamigen Studienreihe im Auftrag der Deutschen Islam Konferenz durchgeführt. Ziel der Studie ist es, aktuelle und aussagekräftige Grundlageninformationen über in Deutschland lebende Musliminnen und Muslime bereitzustellen.
Katrin Pfündel, Dr. Anja Stichs und Dr. Kerstin Tanis, Autorinnen und wissenschaftliche Mitarbeiterinnen am BAMF-Forschungszentrum, sprechen im Interview über die wichtigsten Ergebnisse der Studie.
Wie viele muslimische Religionsangehörige leben derzeit in Deutschland und wie hat sich deren Struktur in den vergangenen Jahren entwickelt?
Quelle: © BAMF
Dr. Anja Stichs: Nach unseren Berechnungen leben in Deutschland aktuell zwischen 5,3 und 5,6 Millionen muslimische Religionsangehörige mit Migrationshintergrund aus einem muslimisch geprägten Herkunftsland. Dies sind zwischen 6,4 und 6,7 Prozent der Gesamtbevölkerung. Seit 2015 ist die Zahl der muslimischen Religionsangehörigen damit um rund 0,9 Millionen Personen gestiegen. Dies ist vor allem auf die Zuwanderung von Menschen aus den Krisenregionen im Nahen und Mittleren Osten zurückzuführen.
Ein weiteres wichtiges Ergebnis ist, dass die muslimische Bevölkerungsgruppe in Deutschland in den letzten Jahren deutlich vielfältiger geworden ist. Dies zeigt sich unter anderem an der Verteilung nach Herkunftsländern: Muslimische Religionsangehörige aus der Türkei, die eine lange Zuwanderungsgeschichte mit Deutschland verbindet, bilden zwar weiterhin die größte Herkunftsgruppe, sie stellen mit einem Anteil von 45 Prozent aber nicht mehr die absolute Mehrheit dar. Mit einem Anteil von 13 Prozent folgen an zweiter Stelle Musliminnen und Muslime aus Syrien, darunter viele neu Zugewanderte. Entsprechend unterscheiden sich auch die Lebenserfahrungen der in Deutschland lebenden Musliminnen und Muslime stark. Viele von ihnen sind bereits vor vielen Jahren nach Deutschland eingewandert oder in Deutschland geboren. Fast die Hälfte hat die deutsche Staatsangehörigkeit. Eine wachsende Zahl ist aber auch erst in den letzten Jahren gekommen und noch dabei, sich ein Leben in Deutschland aufzubauen.
Welche Rolle spielt Religion für Musliminnen und Muslime in Deutschland und wie üben sie diese aus?
Quelle: © BAMF
Katrin Pfündel: Eine deutliche Mehrheit der befragten Musliminnen und Muslime gibt an, stark oder eher gläubig zu sein. Ihr Anteil hat sich im Vergleich zur Studie "Muslimisches Leben in Deutschland 2008" aber insgesamt verringert. Gleichzeitig sind nicht nur muslimische Religionsangehörige häufig gläubig, sondern alle befragten Personen mit Migrationshintergrund, also auch solche mit christlicher und anderer Religionszugehörigkeit. Christliche Personen ohne Migrationshintergrund sind hingegen seltener stark oder eher gläubig.
Unsere Analysen zeigen, dass muslimische Religionsangehörige religiöse Praktiken sehr unterschiedlich in ihren Alltag einbinden: So geben fast 40 Prozent an, täglich zu beten, 25 Prozent dagegen nie. Religiöse Veranstaltungen werden nur von einem Viertel der Musliminnen und Muslime mindestens einmal wöchentlich besucht. Das Begehen religiöser Feste und Feiertage ist hingegen für die meisten muslimischen Personen – wie auch für christliche Personen mit und ohne Migrationshintergrund – von hoher Bedeutung. Besonders interessant ist für uns das Ergebnis, dass die überwiegende Mehrheit der muslimischen Frauen und Mädchen kein Kopftuch trägt – entgegen der weitverbreiteten öffentlichen Meinung.
Welchen Einfluss hat Religion auf den Integrationsprozess und wie gut sind muslimische Personen in Deutschland integriert?
Quelle: privat
Dr. Kerstin Tanis: Unsere Analysen zeigen, dass der Einfluss der Religion auf die Integration häufig überschätzt wird. Musliminnen und Muslime unterscheiden sich im Hinblick auf die betrachteten Integrationsindikatoren kaum von Personen, die ebenfalls einen Migrationshintergrund aus den berücksichtigten muslimisch geprägten Herkunftsländern haben, aber einer anderen Religion angehören.
Vielmehr haben wir herausgefunden, dass migrationsbiographische Aspekte wie die Aufenthaltsdauer, Migrationsgründe oder die soziale Lage den Integrationsprozess zu einem weitaus wichtigeren Teil prägen als die Religionszugehörigkeit. In diesem Zusammenhang lässt sich vor allem bei der schulischen und beruflichen Bildung – insbesondere bei selbst Zugewanderten – ein Nachholbedarf erkennen. Als Beispiel sind hier die vielen Personen anzuführen, die kürzlich aus dem Mittleren und Nahen Osten zugewandert sind und ihre Bildungsbiographien aufgrund von Flucht unterbrechen mussten.
Bei der sozialen Einbindung können wir hingegen feststellen, dass muslimische Religionsangehörige gut integriert sind: Zwei von drei Personen haben im Freundeskreis häufig Kontakt zu Personen deutscher Herkunft. Diejenigen, die noch wenige Kontakte haben, zeigen zugleich einen starken Wunsch nach häufigeren Kontakten. Damit zeigt sich, dass es für den gesellschaftlichen Zusammenhalt auch künftig sehr wichtig ist, dass Personen mit und ohne Migrationshintergrund gleichermaßen aufeinander zugehen.
Muslimisches Leben in Deutschland 2020
In dem Forschungsbericht zur Studie "Muslimisches Leben in Deutschland 2020 (MLD 2020)" wird eine aktuelle Hochrechnung über die Zahl der muslimischen Religionsangehörigen mit Migrationshintergrund in Deutschland vorgenommen. Weitere Themen sind Religiosität, religiöse Alltagspraxis sowie verschiedenen Aspekte der Integration.
Blätterfunktion
Inhalt
- Intuitiv, attraktiv, aktuell
- Fachkräfteeinwanderungsgesetz
- Frauen in Migration und Integration im Fokus
- "Muslimisches Leben in Deutschland ist vielfältig"
- BAMF schreibt Erfolgsgeschichte weiter
- Digital inklusiv
- "UNHCR und BAMF sind eng verzahnt"
- BAMF-Forschungsdatenzentrum nimmt Betrieb auf
- Aufnahme afghanischer Ortskräfte
- Fachtagung: Asylrecht in der Praxis
- Freiwillige Rückkehr als Option
- Chance für ein lebendiges jüdisches Leben in Deutschland
- "Mehr als nur Sport"