Diskussion ohne Vorurteile , Datum: 10.07.2020, Format: Meldung, Bereich: Integration

Beim Projekt "Blickpunkt. Leipzig ohne Vorurteile" erleben Jugendliche und junge Erwachsene gemeinsame Wertschätzung – egal, ob sie einen Migrationshintergrund haben oder mit einer Beeinträchtigung leben.

Der 16-jährige Tilmann ist aufgeregt an diesem Samstagnachmittag. Er wird gleich die dritte Sitzung des von ihm konzipierten Debattierklubs leiten. Diesmal geht es um das Thema "Soziale Medien und Datenschutz: Ist das nicht ein Widerspruch in sich?" Fünf Teilnehmende aus dem Leipziger Jugendclub IUVENTUS e.V. sind gekommen. In Nicht-Corona-Zeiten wären es weitaus mehr gewesen, aber so ist die Teilnehmerzahl begrenzt. Der Debattierklub ist eines der vielen kreativen Angebote des auf drei Jahre angelegten Integrationsprojekts "Blickpunkt. Leipzig ohne Vorurteile", das der Verband der russischsprachigen Jugend in Deutschland JunOst e.V. in Kooperation mit seinem lokalen Jugendklub IUVENTUS e.V. umsetzt. Bereits seit Oktober 2018 wird das Projekt vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) mit Mitteln des Bundesministeriums des Innern, für Bau und Heimat (BMI) gefördert. Das Besondere an dem Projekt: Hier kommen Menschen mit und ohne Migrationshintergrund – vor allem aus der ehemaligen Sowjetunion – sowie Menschen mit und ohne Beeinträchtigung zusammen.

Eine Frau sitzt auf einem Stuhl und schreibt auf eine Karte. Nastja schreibt die gesammelten Argumente für das Flipchart auf. Quelle: BAMF | Juliane Streich

Die Diskussion verläuft nach strengen Regeln, die von Projektteilnehmenden selbst bei der ersten Sitzung festgelegt wurden. Zum Beginn der Debatte müssen sich die Teilnehmenden positionieren und entscheiden, ob sie die Pro- oder Kontraseite annehmen. Danach haben beide Seiten 15 Minuten Zeit sich auf die Debatte vorzubereiten, Argumente und Gegenargumente zu sammeln und sich zu überlegen, wie sie ihre Reden aufbauen. Mit dem Ablauf dieser Zeit beginnt die Debatte, dabei haben alle Redenden nur eine Minute Zeit für ihren Vortrag. Während diesem dürfen keine Zwischenfragen von der Gegenseite gestellt werden. Dabei steht im Mittelpunkt das Motto: Akzeptiere die Meinung der anderen Debattierenden, denn neben dem eigenen gibt es noch zahlreiche weitere Blickpunkte und Perspektiven.

Ein Ort für den Dialog

Die Teilnehmenden bei IUVENTUS sind zwischen 16 und 27 Jahre alt. Einige von ihnen sind aufgrund ihrer körperlichen, psychischen, geistigen oder anderen Beeinträchtigung im Alltag oft selbst Vorurteilen ausgesetzt. Dagegen wollten sie etwas tun. Von Beginn an brachten sie daher ihre Ideen und Wünsche in die Projektkonzeption ein. Mit Länderabenden, thematischen Kinoevents mit anschließender Diskussion, Streitschulen und Debattierklubs sowie Runden Tischen und Dialog-Foren wollen sie gegen Vorurteile angehen. Ziel ist dabei, eine spannende Plattform mit zahlreichen kreativen Formaten zu schaffen, die gleichsam Integration wie Inklusion fördern – ein Ort zum Kennenlernen, für den offenen Dialog und zum Abbau von gegenseitigen Vorurteilen.

Dieses inklusive Paradigma sei "das A und O", sagt Projektleiterin Daria Luchnikova. Auch die Teilnehmenden des heutigen Debattierklubs stimmen ihr zu. Die 18-jährige Nastja findet es toll hier, weil alle Projektangebote Mitwirkungsmöglichkeiten für jede und jeden bieten. Wer da ist, macht genauso mit, wie alle anderen, das ist für alle bei IUVENTUS klar – individuelle Einschränkungen werden berücksichtigt, stehen aber nicht im Fokus. Das sieht auch Tilmann so: "Das wird einfach nicht thematisiert. Jeder wird so wahrgenommen, wie er ist." Auch der 20-jährige Mitja, der sogar extra aus Berlin angereist ist, diskutiert eifrig mit. "Mir gefällt die Interaktion mit den Leuten hier", sagt er. "Ich bin hier noch nie auf eine unfreundliche Person getroffen."

Projekt mit Innovationscharakter

Außer dem Miteinbeziehen von jungen Menschen mit und ohne Migrationshintergrund und Beeinträchtigung in die Aktivitäten, bietet das Projekt auch eine Weiterbildungsreihe: In sechs Modulen lernen junge mehrsprachige Ehrenamtliche, wie sie Jugendliche und junge Erwachsene mit Migrationshintergrund und Beeinträchtigung in ihrer Freizeit unterstützen können. Als künftige Freizeitassistentinnen und -assistenten können sie nicht nur sprachliche Hilfe, sondern auch Unterstützung bei der Überwindung zahlreicher Alltagsbarrieren leisten: von Treppen im Museum bis hin zur Übersetzung schwieriger Inhalte in Leichte Sprache. Dabei sind junge Menschen mit Beeinträchtigung im Rahmen der Weiterbildungsreihe selbst als Expertinnen und Experten aktiv: So wird beispielsweise das Modul "Kommunikation und Sprache" von zwei Referentinnen und Referenten mit sogenannter geistiger Behinderung geleitet. Mit seinem doppelten Fokus auf junge Menschen mit und ohne Migrationshintergrund sowie mit Beeinträchtigung hat das Projekt "Blickpunkt" im Raum Leipzig Innovationscharakter.

Die Diskussionsrunde zu Sozialen Medien und Datenschutz lief gut. Zwei Stunden lang wurden verschiedene Situationen durchgesprochen, jede und jeder bekam Raum, um die eigene Meinung mit den anderen zu teilen. Am Ende sind sich zumindest alle einig, dass es mehr Aufklärung darüber geben sollte, welche Daten man auf Social Media Kanälen unfreiwillig preisgibt und was damit geschehen kann. Zusammen mit den anderen Teilnehmenden stapelt Tilmann die Stühle aufeinander. Er ist zufrieden, die heutige Debatte war für ihn ein voller Erfolg.

Text: Juliane Streich

Das Projekt "Blickpunkt. Leipzig ohne Vorurteile"

Mit dem Projekt "Blickpunkt. Leipzig ohne Vorurteile" will die Migrantenjugendselbstorganisation JunOst e.V. in Leipzig einen offenen Dialog zwischen Aufnahmebevölkerung und Zuwanderinnen und Zuwanderern fördern. Mit ihren Projektaktivitäten wollen sie dazu beitragen, bewusst zu machen, dass der eigene "Blickpunkt" nicht der einzige ist, sondern es viele verschiedene Sichtweisen und Perspektiven gibt. Durch unterschiedliche kreative Formate sollen bestehende Vorurteile abgebaut, Einstellungen aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet und so Gemeinsamkeiten entdeckt werden. Das Projekt bezieht zudem gezielt Menschen mit körperlicher, geistiger oder psychischer Beeinträchtigung mit ein.