Interview mit Thomas Kreitschmann zu Länderanalysen , Datum: 21.12.2022, Format: Meldung, Bereich: Behörde

Kürzlich verabschiedete das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) Herrn Thomas Kreitschmann, den langjährigen Referatsleiter des Bereiches Länderanalysen, in den Ruhestand. Wir sprachen mit Herrn Kreitschmann über die Arbeit in einem der Kernreferate des BAMF.

Ein Portait eines Mannes Thomas Kreitschmann Quelle: Amory Salzmann

Herr Kreitschmann, Sie haben den Bereich Länderanalysen geleitet und über die Jahre ausgebaut. Warum ist gerade dieser Bereich so wichtig für das BAMF?

Kreitschmann: Grundlage für die Entscheidung über einen Asylantrag ist die Prognose, ob der oder dem Asylsuchenden Gefahr droht, wenn sie oder er in ihr bzw. sein Heimatland zurückkehrt. Ohne aktuelle, umfassende und objektive Informationen über das jeweilige Herkunftsland ist die Prüfung eines Asylantrags durch die Entscheiderinnen und Entscheider gar nicht möglich. Die Beschaffung, Prüfung, Aufbereitung und Vermittlung dieser Informationen ist Aufgabe der Länderanalyse-Referate, die organisatorisch in das Informationszentrum Asyl und Migration (IZAM) des Bundesamtes eingebettet sind. Wir liefern aktuelle und verlässliche Einschätzungen der Situation in den Herkunftsländern und schaffen damit die Grundvoraussetzung für qualitativ hochwertige und rechtsbeständige Asylentscheidungen.

Wie muss man sich diese Arbeit konkret vorstellen? Woher bekommen Sie Ihre Informationen?

Kreitschmann: Zur Informationsgewinnung nutzen wir alle relevanten Quellen, wie etwa Informationen des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR) oder der Europäischen Asylagentur (EUAA), sowie die Lageberichte des Auswärtigen Amtes (AA). Wir beziehen dabei auch aktuelle Informationen unseres Verbindungspersonals mit ein, welches das Bundesamt in ausgewählten Ländern im Einsatz hat. Ebenso werten wir Urteile der Verwaltungsgerichte, des Gerichtshofes der Europäischen Union (EUGH), Berichte von Fact-Finding-Missions, internationalen Organisationen, Gutachten wissenschaftlicher Institute sowie nationale und internationale Pressemeldungen aus. Die Länderinformationen werden nach ihrer Relevanz, Objektivität, Aktualität, Neutralität, Verlässlichkeit und Transparenz ausgewertet und unter Berücksichtigung gemeinsamer europäischer Standards nutzerorientiert aufbereitet.

Abgesehen von diesen Quellen - verschafft sich das Bundesamt auch selbst ein Bild von der Lage vor Ort?

Kreitschmann: Andere Länder, wie Frankreich, Belgien, Norwegen und die Schweiz, entsenden seit Jahren Mitarbeitende im Rahmen von Fact-Finding-Missions (FFM) in ausgewählte Herkunftsländer, um die humanitäre, sicherheitspolitische und medizinische Lage vor Ort zu studieren. In der Vergangenheit waren wir an drei Fact-Finding-Missions in der Demokratischen Republik Kongo sowie in Mauretanien und Eritrea beteiligt. Nun planen wir eine weitere gemeinsame Mission mit den Schweizer Kolleginnen und Kollegen nach Venezuela und Kolumbien. Dafür habe ich noch alles in die Wege geleitet und hätte auch selbst gerne daran teilgenommen - leider kam mein Ruhestand dazwischen.

Wie erreichen die einmal gewonnenen und aufbereiteten Informationen die Entscheiderinnen und Entscheider?

Kreitschmann: Die Datenbank MILo (Migrations-InfoLogistik) ist das Kernstück unseres Informationszentrums für Asyl und Migration (IZAM). In MILo werden alle Informationen zur Lage in den Herkunftsländern von Migrantinnen und Migranten sowie in anderen Aufnahme- und Transitstaaten gesammelt und zur Verfügung gestellt. Die Entscheiderinnen und Entscheider des Bundesamtes, Richterinnen und Richter der Verwaltungsgerichtsbarkeit sowie Mitarbeitende aus anderen am Asylverfahren beteiligten Behörden können online auf die ca. 2,6 Millionen Dokumente zugreifen.

Welche Skills bringen die Länderanalystinnen und –analysten mit? Was ist so besonders an ihnen?

Kreitschmann: In erster Linie brauchen sie natürlich umfangreiche länderkundliche und fremdsprachliche Kenntnisse. Letztere bringen die Kolleginnen und Kollegen im großen Umfang mit, darunter beispielsweise auch Russisch, Ukrainisch, Chinesisch, Arabisch, Farsi und Hebräisch. Der COI-Bereich (Country of Origin Information) ist damit in der Lage, Tageszeitungen im Original zu lesen und entsprechend auszuwerten. Bestenfalls waren unsere Länderexpertinnen und –experten schon einmal in einem Auslandseinsatz – sei es im Rahmen ihres Studiums oder durch die Arbeit in einer Nichtregierungsorganisation (NGO). Aber auch rhetorische und analytische Fähigkeiten sind für die Tätigkeit im Länderanalysebereich unabdingbar, da Informationen nicht nur gesammelt, sondern auch ausgewertet und für die Entscheiderinnen und Entscheider aufbereitet werden müssen. Hinzu kommen seit 2019 verstärkt Schulungen zu ausgewählten Herkunftsländern in den Außenstellen, die ebenfalls rhetorischer und auch didaktischer Fähigkeiten bedürfen.

Wie sieht die Produktpalette des IZAM aus?

Kreitschmann: Die wichtigsten Produkte sind – neben internen Dienstanweisungen – Länderreporte, der Entscheiderbrief, die wöchentlich erscheinenden Briefing Notes sowie die tägliche Herkunftsländer-Pressedokumentation. Durch die verschiedenen Produkte soll sichergestellt werden, dass alle Entscheidungen im Asylverfahren auf den gleichen, aktuellen und belastbaren Informationen über die Situation in den Herkunftsländern basieren.

Publikationen

  • Die Länderreporte beschreiben die aktuellen Geschehnisse und Entwicklungen in einem Herkunftsland oder einer Region oder die aktuelle Situation einer bestimmten sozialen, ethnischen oder religiösen Gruppe. Sie erscheinen nicht nach einem vorgegebenen Zyklus, sondern werden anlassbezogen erstellt oder aktualisiert.
  • Der monatlich erscheinende Entscheiderbrief informiert über die Entscheidungspraxis in Bezug auf die Herkunftsländer, die Informationsgewinnung und -verarbeitung im IZAM, die Zusammenarbeit mit den Verwaltungsgerichten, die Arbeit von EU-Partnerbehörden.
  • Die wöchentlich und neuerdings zusätzlich halbjährlich (in Zusammenfassung) erscheinenden Briefing Notes bieten einen Kurzüberblick zu wichtigen Entwicklungen in den Herkunftsländern.

Werden diese Informationen nur den Mitarbeitenden oder auch der Öffentlichkeit zugänglich gemacht?

Kreitschmann: Ein Teil der Produkte wird auf den Internetseiten des Bundesamtes und der EUAA veröffentlicht. Darüber hinaus bietet der MILo-Gastzugang eine Sammlung zahlreicher, öffentlich zugänglicher Informationen zum jeweiligen Herkunftsland. Für die Fachöffentlichkeit und Interessierte ist es damit möglich, nachzuvollziehen, auf welcher Basis Entscheidungen des Bundesamtes getroffen werden. Der Entscheiderbrief wird zudem an Ausländerbehörden, Gerichte, Universitäten, Stiftungen und kommunale Einrichtungen versandt. Die Briefing Notes werden auch ins Englische übersetzt und stehen damit sogar der internationalen Öffentlichkeit zur Verfügung.

Können sich Entscheiderinnen und Entscheider auch direkt mit Fragen an die Länderanalystinnen und -analysten wenden?

Kreitschmann: Für spezielle Fragen der Entscheiderinnen und Entscheider gibt es im IZAM die Informationsvermittlungsstelle (IVS). Sie ist die zentrale Stelle für Anfragen und der interne Recherchedienst des Bundesamtes. Die Mitarbeitenden der IVS bearbeiten Anfragen von Entscheiderinnen und Entscheidern sowie von Prozesssachbearbeiterinnen und -bearbeitern direkt oder steuern diese an die zuständigen Fachreferate, z. B. die Länderanalysen. Die IVS bearbeitet auch externe Anfragen nach eingehender Prüfung und mit entsprechender Bevollmächtigung. Bei den Anfragen kann es sich um allgemeine Fragen zur Situation vor Ort, aber auch um Detailfragen zur Gesundheitsversorgung in einem bestimmten Land handeln. Die formale Prüfung sowie die Weiterleitung von Anfragen an das Auswärtige Amt über die zuständigen Fachreferate fällt ebenfalls in die Zuständigkeit der IVS. Die Sachverhaltsaufklärung im Herkunftsland kommt nur dann in Frage, wenn keine milderen Mittel zur Verfügung stehen.

Was machen Sie jetzt ohne das BAMF und seine interessanten und vielseitigen Aufgaben?

Kreitschmann: Auf mich wartet die mindestens genauso interessante und vielseitige Aufgabe der Enkelkinderbetreuung. Ich bleibe dem internationalen Bereich aber auf jeden Fall weiter verbunden: Zum Abschied habe ich ein Kochbuch mit internationalen Gerichten von meinen Kolleginnen und Kollegen bekommen, so werde ich viele Länder zumindest kulinarisch bereisen können.