"Krisen der Welt kommen mit Zeitverzug zu uns." , Datum: 01.04.2024, Format: Interview, Bereich: Presse

Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hat turbulente Jahre hinter sich. Aus den Krisenjahren 2015 und 2016 geht es gestärkt hervor und besinnt sich auf sein Kerngeschäft, dem Asyl und Schutz von Geflüchteten. Vizepräsidentin Katrin Hirseland gibt Einblick hinter die Kulissen einer "flexiblen Behörde".

Beitrag zum Thema "Fluchtursachen", erschienen in Straßenkreuzer - Das Sozialmagazin, Jahrgang 31, Heft 3, März 2024, Seite 14. Text: Severine Wahl, Fotos: Simeon Johnke.

Ziemlich imposant, fast schon stoisch erhebt sich der Hauptsitz des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) in der Nürnberger Südstadt. Den Zweiten Weltkrieg hat die einstige SS-Kaserne fast unbeschadet überstanden, genauso wie die Bundesbehörde ihre Krise von 2015/16. Sowohl das Gebäude als auch das Bundesamt haben eine bewegende Geschichte hinter sich. "Die Zeiten der Dramen sind vorbei", sagt Katrin Hirseland schmunzelnd. Wenn jemand das behaupten kann, dann sie.

Seit 21 Jahren arbeitet sie im BAMF, seit Sommer 2022 als Vizepräsidentin. Dramen hat sie einige erlebt. Oder eher Krisen, auch wenn sie den Begriff ungern benutzt. 2015 und 2016 durchlebte die Bundesoberbehörde, die dem Bundesinnenministerium unterstellt ist, ihre wohl größte Herausforderung.

Deutschland öffnet für Hunderttausende Schutzsuchende aus Syrien und anderen Krisenregionen die Grenzen. Die Bereitschaft der Bevölkerung und auch der Behörden, zu helfen, ist enorm. Die sogenannte Willkommenskultur sorgt weltweit für Aufsehen.

Knapp 477.000 Asylanträge gehen 2015 beim BAMF ein – so viele wie nie zuvor. Nach dem Zerfall der Sowjetunion und in Folge des Jugoslawienkriegs wurden 1992 rund 440.000 Asylanträge gestellt, der bis dato einzige Peak in der Geschichte des Bundesamtes.

"Asylverfahren und Flüchtlingsschutz sind von Anfang an Aufgaben des BAMF", erklärt Katrin Hirseland. "Wir sind dafür da, sicherzustellen, dass Menschen ein faires, schnelles, gutes Verfahren bekommen, an dessen Ende die Gewissheit steht, ob sie in Deutschland Schutz bekommen können oder nicht."

Wir sind sehr stolz darauf, dass wir die Bedeutung des Gebäudes gedreht haben.

1953 nahm das BAMF damals noch als Bundesdienststelle für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge auf dem Areal eines ehemaligen Kriegsgefangenenlagers in Nürnberg-Langwasser mit 40 Beschäftigten seine Arbeit auf. Und zwar in Folge der "Verordnung über die Anerkennung und Verteilung von ausländischen Flüchtlingen".

Nach dem Zweiten Weltkrieg hielten sich etliche Geflüchtete, Zwangsarbeiter, Verschleppte und Kriegsgefangene aus dem Ausland in Deutschland auf. Die Behörde entschied darüber, ob sie bleiben oder zurückgeführt werden, sorgte für ihren Schutzstatus.

Seither nahmen die Asylanträge nicht ab. Im Gegenteil. Mit den Anträgen steigt auch die Zahl der Mitarbeiter, zieht die Behörde zunächst nach Zirndorf und 1996 schließlich in die ehemalige SS-Kaserne wieder nach Nürnberg. 30.000 Quadratmeter Platz nutzt das BAMF, das entspricht etwa vier Fußballfeldern. In dem ehemaligen Nazigebäude sind unter anderem auch der Zoll und der UNHCR untergebracht.

BAMF-EingangsbereichGrößer darstellen Die farbige Wand erinnert an den Aufenthalt der US-Armee in der ehemaligen Kaserne. Die Amerikaner hatten die Wände teilweise mit blauer Schutzfarbe gestrichen. Quelle: © Simeon Johnke

"Wir sind sehr stolz darauf, dass wir die Bedeutung des Gebäudes gedreht haben, nämlich von einem menschenverachtenden Hintergrund hin zu einem Gebäude, in dem es um Flüchtlingsschutz und gesellschaftlichen Zusammenhalt geht", erzählt die Vizepräsidentin des BAMF.

2016 bricht die Statistik alle Rekorde. Binnen eines Jahres steigt die Zahl der Schutzsuchenden um 63,5 Prozent. "Wenn in einer Herkunftsregion eine Krise herrscht, wirkt sich das zeitversetzt oftmals auch auf unsere Arbeit aus. Wir sehen das dann an den Zugängen der Asylsuchenden", sagt Hirseland.

Rund 746.000 Asylanträge müssen die Beschäftigten des BAMF bearbeiten – am besten sofort. "Ich wüsste nicht, welche Behörde mit dieser Arbeitslast nicht überfordert gewesen wäre", sagt sie.

Dem BAMF scheint die Luft auszugehen. Ausgerechnet in dieser Zeit präsentiert es sich als atmende Behörde. Sie bekommt Unterstützung von Kolleginnen und Kollegen aus anderen Ämtern und der Bundeswehr.

"Diese Zeit hatte auch etwas von Aufbruchstimmung", erinnert sich Hirseland. Das BAMF stockt das Personal von 2000 auf zwischenzeitlich 10.000 auf. "Mit gemischten Ergebnissen, weil natürlich nicht alle Mitarbeitenden aus dem Arbeitsbereich Flucht und Migration kamen, aber mit einem enormen Engagement."

Neue Außenstellen werden errichtet. Bundesweit zählt die Behörde heutzutage 50 Außenstellen, allein in Nürnberg sind zehn Standorte. Denn: "In jedem Bundesland soll es möglich sein, vor Ort Asyl zu beantragen. Unsere Außenstellen sind daher räumlich an die Erstaufnahmeeinrichtungen des Landes gekoppelt", erklärt Hirseland.

Trotz Engagement und Arbeit "im Akkord" wächst der Unmut über die Behörde, hagelt es Kritik – genau "in der Situation, in der die Mitarbeitenden vor einem großen Berg Arbeit standen. Arbeit für die Menschen, die nach langer Flucht zu uns gekommen waren. Dann so viel pauschale Kritik zu hören, war kein schönes Gefühl für die Mitarbeitenden", erinnert sich Katrin Hirseland.

Hinter der doppelt verklinkerten Backsteinfassade und den tausenden Fenstern am Hauptsitz wie auch in den im Bundesgebiet verteilten Außenstellen tut sich was. Mehr, als die Öffentlichkeit wahrnimmt. "Rechtliche Änderungen und Digitalisierungsprozesse wurden in einem atemberaubenden Tempo entwickelt. Es herrschten vielfach Pragmatismus und ein ‚Ärmelhochkrempeln‘. Man konnte Dinge in die Wege leiten, das würde heute so teilweise nicht mehr gehen“, erzählt Hirseland.

Das BAMF beweist einen langen Atem: Die Behörde habe sich "personell, strukturell und im Bereich Qualität inzwischen sehr gut aufgestellt". Das Bundesamt versteht sich nicht mehr als atmende, sondern als flexible Behörde mit einem schnellen Reaktionsmechanismus, wie es Hirseland nennt. "Das heißt: Wir haben eine Arbeitsstruktur, in der wir relativ flexibel umsteuern können, auch wenn dies nur bis zu einem gewissen Grad funktionieren kann", so Hirseland, "und dringliche Aufgabenschwerpunkte angehen und andere vorübergehend zurückstellen können.“

In den vergangenen Jahren setzt das BAMF daher auf Schulungen und Fortbildungen seiner Mitarbeitenden. Neben der eigentlichen Aufgabe hat ein Teil der Beschäftigten ein zweites Standbein, insbesondere im Bereich Asylverfahren, um bei Bedarf zu unterstützen.

"Wir haben ein Arbeitsfeld, das inhaltlich und mengenmäßig nicht planbar ist." Wie zum Beispiel die Auswirkungen des Angriffskrieges auf die Ukraine zeigten. War 2015 vor allem der Arbeitsbereich Asyl und Flüchtlingsschutz die Herausforderung für das BAMF, war es 2022 der Bereich Integration durch den Ukrainekrieg.

Die Integration der Menschen und gesellschaftlichen Zusammenhalt fördern, ist eine weitere zentrale Aufgabe des BAMF. Dazu gehört der Integrationskurs und die berufsbezogene Sprachförderung, zählt die gesellschaftliche Integration, sofern sie bundesgefördert ist, zum Beispiel Migrationsberatung. Viele Projekte sollen zudem Ehrenamtliche – auch als Multiplikatoren – unterstützen und stärken.

Wohl weniger bekannt: Das Bundesamt hat eine eigene Gruppe für Migrations- und Integrationsforschung mit rund 50 Mitarbeitenden. Außerdem obliegen der Behörde internationale Aufgaben und Projekte, die humanitäre Aufnahme sowie Hilfsprojekte und die Verwaltung eines großen europäischen Förderfonds im Bereich Migration und Integration.

Seit 2022 ziehen die Zahlen der Asylanträge wieder an. Das BAMF fühlt sich dafür gewappnet. "Wir sind eine sehr gut aufgestellte Behörde, auch mental, die mit schwankenden Arbeitsvolumina gut umgehen kann", betont Katrin Hirseland. "Den Wanderpokal ‚Deutschlands schlechteste Behörde‘ haben wir schnell wieder zurückgeben dürfen."

Hintergrund

Deckenmosaik im Gebäude des Bundesamtes Zwischen den Fackeln auf dem Deckenmosaik im Eingangsbereich befanden sich nationalsozialistische Symbole, die nach 1945 entfernt wurden. Quelle: © Simeon Johnke

Architekt Albert Speer hatte die Idee, neben dem Reichsparteitagsgelände eine Kaserne für Adolf Hitlers Leibstandarte zu errichten, die dort eigens für die Reichsparteitage untergebracht werden sollte. Offiziell wurde der Bau als SS-Unterkunft für die Unterbringung der SS-Verfügungstruppen bezeichnet.

Letztendlich wurde Franz Ruff mit der Planung und dem Bau betraut. Binnen zwanzig Monaten stellte er das Gigaprojekt fertig. Bis zu 1800 Arbeiter waren zeitgleich beschäftigt. Die Baukosten betrugen 25 Millionen Reichsmark (umgerechnet ca. 250 Mio. Euro).

1939 sollte die Kaserne anlässlich des Reichsparteitags eingeweiht werden, der Termin entfiel wegen des Kriegs. Während des Zweiten Weltkriegs diente das Gebäude als Ausbildungsbildungsstätte der SS-Nachrichtenabteilung. Im benachbarten Z-Bau hatte die Gestapo ihr Quartier. Nach Kriegsende nahm die US-Armee die Kaserne ein und benannte sie "Merrell Baracks" nach ihrem Kriegshelden Joseph F. Merrell. In dem Gebäude waren noch rund 30.000 Zwangsarbeiter untergebracht, die größtenteils von dort in ihre Heimat zurückkehrten.

Seit 1948 nutzten die Amerikaner die Merrell Baracks als Truppenunterkunft, in den 1960ern wurden von dort GIs nach Vietnam entsandt. Außerdem diente die Kaserne als Stützpunkt zur Überwachung der Ost-West-Grenze.

In den 1980er Jahren zogen erste US-Soldaten ab. Im September 1992 übergab die US-Armee die Kaserne der Stadt Nürnberg, die die Nutzung ausschrieb.

Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge bekam den Zuschlag. Nach dreieinhalb Jahren Umbauarbeiten in Höhe von 122 Mio. DM bezog die Behörde im November 1996 die ehemalige SS-Kaserne als Hauptsitz.

Seit 2018 leitet Hans-Eckhard Sommer das BAMF als Präsident. 8.400 Beschäftigte sind der-zeit in der Bundesbehörde tätig, ein Drittel davon in Nürnberg.