"Wie stehen Sie eigentlich zum Dschihad?" , Datum: 07.02.2024, Format: Interview, Bereich: Presse

Die Experten des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge bestimmen, welcher Asylbewerber in Deutschland bleiben darf. Wie es abläuft, wenn ein BAMF-Entscheider einen Afghanen anhört.

Reportage über die Arbeit von Daniel Rauscher, Entscheider beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, erschienen WELT online am 18.01.2024 von Philipp Woldin.

Und dann will es Daniel Rauscher ganz genau wissen: "Sie sagen, die Taliban hätten Sie bedroht, weil Sie kein Waffentraining absolvieren wollten? Gleichzeitig haben Sie eine Koranschule besucht, die von den Taliban betrieben wurde. Wie passt die von Ihnen geschilderte Bedrohung mit einem Religionsunterricht durch die Taliban zusammen?"

Eine Außenstelle des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) im Berliner Süden, 4. Stock, blauer Behördenteppich und ein Schild mit dem Hinweis 'Bitte nicht stören' an der Tür. Auf der anderen Seite des Schreibtisches hat ein junger afghanischer Mann in schwarzer Winterjacke Platz genommen, er soll in diesem Text Parviz Nabiev heißen. Die Behörde hat um eine Anonymisierung seines Falls gebeten.

Der schmale, junge Mann lässt seinen Dolmetscher übersetzen, der neben ihm sitzt: "Jedes Kind in meinem Dorf musste diesen Unterricht besuchen, es gab da kein Entkommen. Aber zu allem anderen, zu Waffen, habe ich immer gesagt: Ich will das nicht." Damit gibt sich Rauscher erst mal zufrieden – er wird später noch mal nachhaken.

Rauscher will herausfinden, ob der junge Afghane in der Heimat konkret verfolgt wurde. In Zimmer 4.3.14 sitzen ständig Menschen, die mühsame Fluchtrouten auf sich genommen haben und ihre Zukunft in Deutschland sehen. Und Daniel Rauscher muss entscheiden, ob es beim Wunsch bleibt. Anhand von Gesetzen, aber auch nach dem eigenen Ermessen.

Jeden Erlebnisbericht glauben, der ihm hier präsentiert wird, muss er nicht. Er sagt: "Die Menschen haben viel erlebt, oft traumatische Erfahrungen. Meine Aufgabe ist da vergleichsweise einfacher. Ich muss gut zuhören, differenziert nachfragen und eine Entscheidung treffen." Klingt simpel. Doch der Job des Asyl-Entscheiders ist anspruchsvoll, es braucht eine Mischung aus dem Abarbeitungseifer eines Verwaltungsbeamten und der Selbstgewissheit des Richters. Das passt, denn Rauscher ist selbst Volljurist. Der 34-Jährige suchte nach dem Studium und ersten juristischen Praxiserfahrungen nach einer 'Tätigkeit mit Sinn'. Dann begann die Zeit der großen Migrationsbewegungen nach 2015 – und Rauscher fand ihn, seinen Sinn.

Seitdem hört er sich die Geschichten der Menschen an, die vor ihm sitzen – übersetzt durch einen Dolmetscher, korrekterweise Sprachmittler genannt. "Bitte die Wahrheit sagen und nichts weglassen", so leitet der Entscheider seine Anhörungen ein. "Ich will Ihnen nicht schaden, aber ich werde viele Fragen haben."

Der Antragsteller an diesem Vormittag ist nicht mehr minderjährig, aber jung –wie jung, bleibt unklar. Es fehlen wie so oft in diesen Fällen amtliche Dokumente. Seine Tazkira, die in Afghanistan als Ersatz für Reisepass und Geburtsurkunde fungiert, habe er auf der Flucht verloren, sagt der Mann. Die Behörden haben ihm ein fiktives Geburtsdatum zugeschrieben, das hier aus Datenschutzgründen nicht genannt wird. Die Familie stammt aus einem Dorf in der Nähe der westafghanischen Stadt Herat. Er gibt seine Volkszugehörigkeit mit Tadschike an.

Parviz Nabiev schildert einen langen Fluchtweg, immer wieder hakt der Entscheider ein. Besonders, als der Mann erzählt, er habe 20 Tage in Griechenland verbracht. "Normalerweise müssten Sie dort einen Antrag stellen, wo Sie Europa erreicht haben", sagt der Entscheider.

Hatten Sie eine Anhörung? Nein. Fingerabdrücke abgegeben? Nein. Asylgründe vorgetragen? Nein. Der Antragsteller hat hier nur theoretisch etwas zu befürchten: Wegen zahlreicher ablehnender Gerichtsurteile versucht Deutschland gar nicht erst mehr, Migranten über das Dublin-System ins EU-Ersteinreiseland, also nach Griechenland zu überstellen. "Ich wollte nur nach Deutschland", sagt der junge Afghane. Später wolle er hier mal studieren. Bis dahin dürfte es allerdings ein weiter Weg werden. Der Afghane hat nach seinen Angaben die Grundschule bis zur 4. Klasse besucht, danach habe er seinem Vater im landwirtschaftlichen Betrieb geholfen. "Uns ging es soweit gut", sagt er, und gibt damit das rhetorische Signal: Aus wirtschaftlichen Gründen habe er sein Heimatland nicht verlassen.

Das System des BAMF ist personell ausgelegt auf etwa 230.000 Anträge, gibt die Behörde an. Im vergangenen Jahr gingen aber 350.000 Erst- und Folgeanträge ein. Entscheider wie Daniel Rauscher müssen also gleichzeitig zügig sowie möglichst fehlerfrei arbeiten. Denn erfolgreich beklagte Entscheide verlangsamen das System. Er formuliert es diplomatisch: "Wir tun unser Bestes. Die Arbeitsbelastung war damals wie heute insofern machbar, da man sich ohnehin immer auf den konkreten Fall konzentriert in seiner Arbeit."

Bei diesem Fall heute ist für ihn zentral: Wie sah die Bedrohung durch die Taliban konkret aus, rechtfertigen sie eine Anerkennung als Asylberechtigter? Rauscher fragt und fragt, lässt sich die Rolle der Terrormiliz in der Gegend erklären, die Kaserne in der Nähe des Dorfes beschreiben und notiert Namen von lokalen Taliban-Vertretern, die der Mann nennt. Immer wieder streut er auch andere Fragen ein: "Wie stehen Sie eigentlich selbst zum Dschihad?", fragt der Beamte. "Wenn jemand mein Haus angreift, darf ich mich verteidigen", sagt Parviz Nabiev. "So sehe ich den Begriff. Die Taliban verstehen darunter: Wir bringen andere Menschen um. Das ist völlig falsch."

Entscheider sind nicht ganz so frei in ihren Entscheidungen, wie der Name vermuten lässt. Sie stützen sich auf die Lageeinschätzungen des Auswärtigen Amtes von vor Ort und sind durch rechtliche Kriterien wie die Einstufung mancher Staaten als sogenannte sichere Herkunftsländer gebunden. Rauscher formuliert es so: "Die Leitplanken der Behörde lassen noch Platz für eigene Erwägungen." Das dichte Wissensnetz im Hintergrund kann auch ein großer Vorteil sein: Entscheider können Rücksprache mit den Botschaften in den Heimatländern halten, um nachzuprüfen, wie plausibel so manche Schilderung ist.

Nach knapp zwei Stunden ist die Anhörung vorbei. "Die Entscheidung wird verhältnismäßig schnell ergehen", gibt Rauscher dem jungen Mann noch mit. Sein erster Eindruck? "Ich fand den Sachvortrag recht differenziert. Bei der Frage der Bedrohung konnte er allerdings nicht sehr ins Detail gehen, einiges berichtete er nur vom Hörensagen."

Bei den Entscheidern gilt das Vier-Augen-Prinzip, ein anderer Beamter wird sich noch mal über den Fall und Rauschers Entscheid beugen. Am Ende wird dem jungen Mann ein Bescheid zugeschickt. Die Gesamtschutzquote für Afghanen lag im vergangenen Jahr bei 76,5 Prozent: Die Menschen wurden also als Flüchtlinge oder politisch Verfolgte anerkannt, erhielten sogenannten subsidiären Schutz, oder es lag ein Abschiebungsverbot vor. Seine Chancen stehen also grundsätzlich gut.