Extremisten aus der radikalen Ecke befreien , Datum: 12.06.2019, Format: Interview, Bereich: Presse

Interview mit Florian Endres, Leiter der Beratungsstelle Radikalisierung beim BAMF, erschienen in der Stuttgarter Zeitung am 11. Juni 2019. Das Interview führte Armin Käfer.

Endres: Allgemein bedeutet Deradikalisierung, eine Person, die sich im extremistischen Umfeld bewegt, aus dieser Szene wieder herauszubekommen. Es geht darum, eine kritische Selbstreflexion anzustoßen. Häufig suchen wir einen Zugang über das familiäre Umfeld. Angehörige können Türöffner sein, um zu verstehen, warum sich eine person radikalisiert hat, wo Brüche in der Biografie sind, die eine Radikalisierung begünstigen, und wo die Deradikalisierung ansetzen kann.

Stuttgarter Zeitung: Ihre Zielgruppe sind gar nicht die Betroffenen, sondern deren Familien oder andere Bezugspersonen?

Endres: Meist sind es die Menschen im sozialen Umfeld, die als Erste feststellen, dass sich eine Person radikalisiert. Wir arbeiten eng mit Eltern, Freunden oder Lehrern zusammen. Wenn die Betroffenen in Haft sitzen, kann es sein, dass Akteure die Deradikalisierung direkt ansprechen. Das kann in Einzelfällen als Auflage mit dem Urteil verbunden sein.

Stuttgarter Zeitung: Sind alle Betroffenen bereit zu kooperieren?

Endres: Das ist unterschiedlich. Wir müssen überlegen, wann eine Person, die sich isoliert hat, gesprächsbereit ist, wie wir an ihn oder sie rankommen können. Die größte Erfolgschance ist der Zugang über das persönliche Umfeld. Es gibt auch radikalisierte Menschen, die von sich aus Rat und Hilfe suchen.

Stuttgarter Zeitung: Wer arbeitet für Sie?

Endres: Wir sind die erste Anlaufstelle bundesweit. Hier beraten Sozialpädagogen, Psychologen, Politik- und Islamwissenschaftler. Wir helfen Betroffenen, die Situation einzuordnen und Hilfsangebote zu finden. Dazu vermitteln wir die Fälle über unser Netzerk von Beratungsinstitutionen. In Baden-Württemberg ist das etwa das Projekt Konex beim Innenministerium.

Stuttgarter Zeitung: Gibt es genug Beratungskapazitäten?

Endres: 2012 hat das BAMF mit seiner Beratung begonnen. Damals gab es bundesweit nur vier Kooperationspartner. Inzwischen haben fast alle Bundesländer eigene Einrichtungen. Bundesweit kümmern sich mehr als 100 Fachkräfte um Personen aus islamistischen Gruppen.

Stuttgarter Zeitung: Wie oft sind Sie erfolgreich?

Endres: Wir analysieren und evaluieren die Wirksamkeit unserer Arbeit, auch wenn sich Deradikalisierung zum Teil über größere Zeiträume hinzieht. Das kann drei, vier oder fünf Jahre dauern. Wir haben es schon geschafft, Personen komplett aus der islamistischen Szene herauszulotsen. Dass Betroffene zu moderaten Ansichten und ihren Weg in die Gesellschaft zurückfinden, kann gelingen.

Stuttgarter Zeitung: Eine neue Herausforderung sind Rückkehrer aus Nahost. Wie sind da Ihre Einflussmöglichkeiten?

Endres: Wichtig ist, dass wir schon im Vorfeld Kontakte zu Angehörigen knüpfen und alle relevanten Stellen einbezogen sind. Die Chancen für eine erfolgreiche Deradikalisierung steigen, wenn wir die Angehörigen frühzeitig betreuen.