Dossier: Freiwillige Rückkehr und Reintegration , Datum: 22.10.2020, Format: Dossier, Bereich: Rückkehr

"Als wir in Erbil landeten, hatte ich das Gefühl, wieder atmen zu können" , Datum: 05.11.2020, Format: Meldung, Bereich: Rückkehr

Wie eine geförderte freiwillige Rückkehr auch unter Pandemiebedingungen gelingen kann, erzählt der Iraker Shaho. Er kehrte im Dezember 2019 mit seiner älteren Schwester und seinen Eltern aus Deutschland in den Nordirak zurück. Gerade als die Familie ihr neues Geschäft in Erbil eröffnen wollte, kam die Welt im Zuge der COVID-19-Pandemie plötzlich zum Stillstand. Eine Geschichte von freiwilliger Rückkehr und Reintegration.

Der Weg nach Deutschland

"Bevor wir nach Deutschland gegangen sind, habe ich, wie jeder andere Teenager auch, ein normales Leben geführt und die Mittelschule besucht. Wegen der Behinderung meiner Schwester Rezhna haben wir uns eines Tages dazu entschlossen, nach Deutschland zu gehen", erzählt der jetzt 21-jährige Shaho im Skype-Gespräch unmittelbar nach den ersten Lockerungen der Lockdown-Maßnahmen im Nordirak im Frühjahr 2020. Er berichtet davon, dass es sehr teuer war nach Deutschland zu kommen: "Wir mussten alles verkaufen, was wir besaßen: unser Auto, unser Haus – aber wir taten es Rezhna zuliebe."

Shaho erinnert sich, dass die Ankunft in Berlin ganz anders war als das, was er über das Leben in Europa gehört hatte. "Es hieß, in Deutschland wäre alles ganz einfach – besonders, wenn man mit einem behinderten Menschen unterwegs sei. Aber das Leben in einer Flüchtlingsunterkunft ist hart." Nach der sorgfältigen Prüfung von Rezhnas Krankengeschichte wurde der Asylantrag der Familie abgelehnt. Sieben Monate später traf Shaho's Familie die Entscheidung, freiwillig nach Hause zurückzukehren.

Die Heimkehr

Die Familie wandte sich an eine der über 1.000 Rückkehrberatungsstellen in Deutschland. Die Mitarbeitenden vor Ort unterstützten die Familie in Beratungsgesprächen bei den Vorbereitungen auf ihre Rückkehr und machten sie auf die vorhandenen deutschen und europäischen Rückkehr- und Reintegrationsprogramme aufmerksam. Neben der Grundförderung durch das humanitäre Programm REAG/GARP (Reintegration and Emigration Programme for Asylum Seekers in Germany/Government Assisted Repatriation Programme) war auch eine ergänzende Reintegrationsunterstützung über das Bundesprogramm StarthilfePlus und das europäische ERRIN-Programm möglich. "In dem Moment, in dem wir im Irak ankamen, fühlte es sich an, als könnten wir wieder atmen", erinnert sich Shaho.

"Wenn man nach Hause kommt, weiß man, dass man dort einen Rückhalt hat. Man ist nicht mehr allein. Es ist meine Sprache, mein Land."

Eine Woche nach der Landung im Nordirak wandte sich Shaho an den lokalen Partner des ERRIN-Programms, das European Technology and Training Centre (ETTC), um spezifische Unterstützung zur beruflichen Reintegration zu bekommen. Shaho erzählt, dass die Rückkehrunterstützung, die die Familie erhalten hat, hilfreich war. "Der Empfang war großartig. Das ETTC hat uns sehr geholfen, auch emotional. Als ich zurückkam, wollte ich einfach nur wieder arbeiten gehen, aber ich wusste nicht, wo ich anfangen sollte. Als ich mich dann mit Leuten vom ETTC zusammengesetzt habe, hatten sie gute Ideen für mich."

Bevor Shahos Familie nach Deutschland ging, führte sie einen Schönheitssalon, den seine Mutter in den 90er Jahren gegründet hatte und der ziemlich erfolgreich war. Shaho betont stolz, dass seine Mutter die Erste war, die solche kosmetischen Dienstleistungen in Erbil anbot. Daraufhin schlug das ETTC vor, diese Erfahrung zu nutzen und neue Geschäfts- und Marketingideen zu entwickeln, um einen modernen Salon zu eröffnen, der dem neuesten Stand entspricht.

Früher wurden im Salon nur Dienstleistungen von Frauen für Frauen angeboten, da es gesellschaftlich nicht akzeptiert war, dass Männer in solchen Berufen arbeiten. Aber nachdem Shaho gesehen hatte, dass in Europa bei kosmetischen Anwendungen nicht nach Geschlechtern getrennt wird, wollte er seiner Mutter beim Ausüben des Geschäfts aktiv helfen: "Man hat uns gesagt, ich könnte mit ihr zusammenarbeiten, da die Kultur sich ein wenig verändert hatte – und dass auch ich einen Beitrag dazu leisten könnte, die Kultur weiter zu verändern. Es läge ganz an mir. Also habe ich den Schritt gewagt. Jetzt habe ich schon zwei weitere männliche Mitarbeiter angestellt: einer stammt aus Syrien, der andere aus dem Libanon."

Im Schönheitssalon, der gleichzeitig als Kosmetikgeschäft fungiert, findet man auch einen Kunsthandwerk-Stand, für den Shahos Schwester verantwortlich ist. Sie stellt ihren eigenen Schmuck her und verkauft ihn an Ort und Stelle.

"Wir bieten den Frauen alles, was sie brauchen, um sich schöner und wertgeschätzt zu fühlen. Sie haben die Wahl: Wir frisieren, tragen Make-up auf, machen Gesichtspflege und führen Waxings durch. Wir bieten einfach alles an, was ein Friseur- und Kosmetiksalon im Repertoire haben sollte", sagt Shaho lachend.

Eine neue Idee in Zeiten von COVID-19

Die offizielle Eröffnung des Salons im März 2020 fiel mit dem Beginn der COVID-19--Pandemie zusammen. Aber Shaho begegnete dieser Herausforderung mit großem Optimismus:

"Ich kann mich nicht beschweren. Das Coronavirus betrifft nicht allein mein Geschäft, sondern die ganze Welt. Es gibt so viele Menschen, denen es schlechter geht als mir", sagt er.

Shaho erklärt, dass die Menschen, obwohl der Lockdown zu diesem Zeitpunkt vorüber war, noch Angst hatten, ihr Geld auszugeben, weil sie einer ungewissen Zukunft entgegenblickten. Aber dank einer großen Stammkundschaft, die sich seine Mutter bereits vor dem Weggang der Familie aus dem Irak erarbeitet hatte, konnten sie bei ihrer Rückkehr auf die alten Kundinnen zählen. Dadurch fiel es ihnen leichter, das Geschäft am Laufen zu halten, obwohl der Salon pandemiebedingt zwischen März und Juni 2020 nur gut 20 Tage geöffnet war.

Shaho betont außerdem, dass zusätzliche Investitionen erforderlich waren, um die erforderlichen Hygienemaßnahmen im Nachgang der Pandemie umzusetzen: "Man muss Masken, Handschuhe, Desinfektionsmittel kaufen, was ziemlich teuer geworden ist. Die Preise sind gestiegen."

Er glaubt, dass zukünftiger Erfolg, ungeachtet dieser noch nie da gewesenen Situation, vor allem eine Frage von harter Arbeit und Motivation ist:

"In Zeiten wie diesen nimmt man sich am besten die Zeit, um die eigenen Fähigkeiten zu verbessern und sich etwas beizubringen, das man vorher nicht konnte oder wusste. Man sollte auch unter widrigsten Umständen etwas Positives finden."

Shaho träumt davon, die Arbeit seiner Mutter fortzusetzen und das Familienunternehmen zu einer Marke auszubauen, die im ganzen Nordirak bekannt ist. "Dann werde ich schreiben: ‚seit 1990‘. Das ist großartig. Ich bin erleichtert, dass ich das Geschäft nicht alleine auf den Weg bringen muss. Ich habe die Unterstützung meiner Mutter; sie ist meine Expertin und gibt mir die Richtung vor." Er möchte das Angebot des Salons außerdem um Dienstleistungen erweitern, die sich an Männer richten, darunter ein Barbierservice.

Danach gefragt, ob er einen Rat für Menschen hat, die darüber nachdenken, ins Ausland zu gehen, antwortet Shaho nach kurzem Nachdenken: "Wenn man in ein anderes Land geht, beginnt man Dinge zu schätzen, die man zu Hause für selbstverständlich gehalten hat. Freunde, Familie.

Sag niemals, dass du nicht zurückkommen wirst. Es ist unmöglich, den Ort zu vergessen, an dem man geboren worden ist."

Über die Herausforderung, inmitten einer Pandemie einen Neuanfang zu wagen, sagt Shaho, dass er und seine Familie nie die Hoffnung verloren haben und optimistisch in die Zukunft blicken: "Wir fangen bei null an, aber es schweißt uns als Familie zusammen. Ich will einfach nur, dass unsere Familie glücklich ist. Wenn alle glücklich sind, ist das Leben für mich in Ordnung."

Ein Mann und eine Frau stehen in einem Schönheitssalon Gute Zusammenarbeit in der Familie ist der Schlüssel zum Erfolg Quelle: © ETTC


Der Beitrag basiert auf einem Portrait, das zunächst durch ERRIN zur Verfügung gestellt wurde.

Weitere Informationen zum Themenbereich:
https://returnnetwork.eu/2020/08/12/when-i-landed-back-in-erbil-i-felt-i-could-breathe-again/

Blätterfunktion

Inhalt

  1. Migration ganzheitlich gestalten: Freiwillige Rückkehr als Chance
  2. "Wir unterstützen Rückkehrende dabei, ihre eigene Perspektive zu entwickeln"
  3. "Als wir in Erbil landeten, hatte ich das Gefühl, wieder atmen zu können"
  4. Informiert entscheiden: Die ersten Schritte einer freiwilligen Rückkehr
  5. Wie Rückkehrberatung Orientierung gibt
  6. Vielfältige Programme bieten individuelle Unterstützung für Ausreise und Neustart