Dossier: Jüdische Zuwanderung , Datum: 31.08.2021, Format: Dossier, Bereich: Integration

Zuwanderung bereichert jüdisches Leben , Datum: 27.04.2021, Format: Meldung, Bereich: Migration und Aufenthalt

Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) führt seit 2005 das Verfahren zur Aufnahme jüdischer Zuwandernder aus der ehemaligen Sowjetunion und ihren Nachfolgestaaten durch. Insgesamt sind seit 1993 über 200 000 jüdische Zuwandernde nach Deutschland gekommen. Anlässlich des Festjahrs "1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland" spricht Julia Kharytonova, 3. Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Kiel, über ihre Erfahrungen.

Frau Kharytonova, Sie selbst sind Ende 1995 als Jugendliche mit ihren Eltern aus der Ukraine nach Deutschland ausgewandert. Was waren Ihre Erfahrungen?

Chanukka (Lichterfest) - Pakete, die von der Gemeinde coronabedingt per Post zu den Menschen gesandt worden sind. Quelle: Landesverband der Jüdischen Gemeinden Schleswig-Holstein

Damals haben, so wie wir, viele Juden das Gebiet der ehemaligen Sowjetunion verlassen. Sie suchten einen Neuanfang an einem Ort, wo sie ihr Judentum ausleben konnten – in einem Land, das für Religionsfreiheit steht und sich aktiv gegen Antisemitismus einsetzt. Zu Sowjetzeiten waren Religion und Glaube nämlich vom Staat eingeschränkt oder sogar bekämpft worden.

Eine Folge davon war, dass auch bei den jüdischen Auswanderinnen und Auswandern oft wenig Wissen über den eigenen Glauben vorhanden war. So ging es auch mir. Wir haben zwar zuhause jüdische Feiertage gefeiert und von der Großmutter koschere Rezepte gelernt. Aber die tiefere Bedeutung dahinter kannte ich zunächst nicht. Das haben ich und viele andere dann in den jüdischen Gemeinden in Deutschland kennen und schätzen gelernt.

Wie beschreiben Sie das Ankommen in Deutschland? Wie läuft die Integration der jüdischen Zuwandernden?

Es war und ist eine beidseitige Herausforderung. Als erstes ist da die sprachliche Barriere. Integration beinhaltet aber noch vieles mehr, was die Menschen erfahren und lernen müssen, als nur die Sprache zu lernen.

Hier hat sich aber viel getan in den letzten Jahren.

Integration aktiv unterstützen

Zum Beispiel gibt es Angebote wie das BAMF-Projekt "Gemeinsam leben wir in Schleswig-Holstein". Dabei wird ein Netzwerk aufgebaut mit dem Landesverband der jüdischen Gemeinden Schleswig-Holsteins. Dadurch vernetzen und stärken sich die sechs Mitgliedsgemeinden untereinander und können gemeinsame, interreligiöse und interkulturelle Aktionen anbieten. Solche Netzwerke und Kooperationen mit dem BAMF gibt es inzwischen in vielen deutschen Städten.

In unserem Kieler Projekt arbeiten wir mit Migrantinnen und Migranten – darunter Juden ebenso wie Muslime und andere Glaubensrichtungen. Für sie schaffen wir Räume der Begegnung und vermitteln Tandempartner zur Integrationsbegleitung. Dieses Land kann nur zur Heimat werden, wenn die Menschen integriert sind. Dann haben sie Toleranz und Verständnis füreinander und bilden für die nächsten Generationen ein Fundament.

Antisemitismus entgegentreten

Was sind aktuelle Herausforderungen für jüdische Zugewanderte?

Wir sind auf dem Weg, weiterhin erfolgreich Integration umsetzen zu können. Ein Problem, das aber nach wie vor existiert, ist Antisemitismus. Nach dem Terroranschlag in Halle ist das für viele wieder sehr präsent geworden. Alle Gemeinden mussten bei der Sicherheit aufrüsten. Ich würde aber gerne Besucherinnen und Besucher begrüßen – ohne, dass sie zuerst durch die Zäune und Kontrollen müssen. Auch in der Schule traut sich nicht jedes Kind, sich offen zu seinem jüdischen Glauben zu bekennen.

Bei den Älteren belasten außerdem oft soziale Fragen. Sie bekommen ihre Arbeitszeit in der Sowjetunion nicht auf die Rente angerechnet. Und so sind viele, obwohl sie jahrzehntelang in Deutschland gearbeitet haben, auf Grundsicherung angewiesen.

Wie gehen sie diese Themen an? Wie begegnen Sie Antisemitismus und sozialen Herausforderungen?

Gegen Antisemitismus arbeiten wir in zahlreichen Projekten. Große Resonanz hat beispielsweise das Zeitzeugen-Theater erfahren, bei dem Schülerinnen und Schüler mit Menschen zusammengewirkt haben, die während des Holocaust oder später in der Sowjetunion verfolgt wurden. Gut begleitet und unterstützt werden wir durch unseren Landesverband, der Mitglied der Union der progressiven Juden ist und auch im Zentralrat der Juden in Deutschland vertreten ist.

Die soziale Arbeit ist ebenfalls ein wichtiger Teil unseres Wirkens. Als Jüdinnen und Juden ist es unsere Pflicht, für die Älteren und für kranke Menschen da zu sein. Deshalb gibt es hier ein starkes, ehrenamtliches Engagement.

Religiöser und sozialer Angelpunkt

Welche Bedeutung haben die jüdischen Gemeinden für die Zuwandernden?

Viele Zuwandernde sind über die Gemeinden erstmals intensiv mit ihrem Glauben in Berührung gekommen. Der religiöse Aspekt ist nach wie vor ein zentraler. Aber auch in anderen Bereichen bieten für alle Altersgruppen Aktivitäten an. Zum Beispiel soziale Beratungen oder Familien-Integrationszentren wie die "Kulturpalette" in Kiel. Ausdrücklich stehen Angebote dabei auch Nicht-Gemeindemitgliedern offen. Die jüdischen Gemeinden sind also auch soziale Anlaufpunkte.

Wie haben umgekehrt die Zugewanderten die Gemeinden mitgeprägt?

Sie waren an Neugründung und Aufbau vieler Gemeinden beteiligt und gestalten jüdischen Leben in Deutschland spürbar mit. Als ich 1995 nach Kiel kam, gab es dort noch keine liberale jüdische Gemeinde. An deren Gründung 2004 beteiligten sich auch die Zugewanderten und sind seitdem aktiv geblieben. Dass solches Engagement wirkt, zeigt sich unter anderem am Mitglieder-Zuwachs: Von rund 20 Personen bei der Gründung sind wir heute bei 220 angekommen. Und der Einsatz unserer vielen Ehrenamtlichen ermöglicht es, in zahlreichen Bereichen des sozialen und kulturellen Miteinanders wichtige Impulse zu setzen.

Das Interview führte Martin Recktenwald

Grafische Aufbereitung zu 10 Fakten über jüdische ZuwanderndeGrößer darstellen Die Grafik können Sie auch als barrierefreies pdf-Dokument herunterladen - Klicken Sie dazu auf das Bild Quelle: BAMF

Hinweis

Festjahr 1.700 Jahre: Von digitalen Diskussionsrunden über Ausstellungen bis zu Filmvorführungen und Konzerten beteiligt sich die jüdische Gemeinde Kiel am Festjahr.

Hintergrundinformationen und einen deutschlandweiten Veranstaltungskalender zum Festjahr bietet der Verein "1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland e.V." auf www.2021jlid.de.

Blätterfunktion

Inhalt

  1. Das Aufnahmeverfahren jüdischer Zuwandernder aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion
  2. Das BAMF und die jüdische Zuwanderung
  3. Grußwort: 1700 Jahre "Jüdisches Leben in Deutschland"
  4. Zuwanderung bereichert jüdisches Leben
  5. "Besonderer Stellenwert"
  6. Virtueller Synagogenrundgang
  7. Chance für ein lebendiges jüdisches Leben in Deutschland
  8. "Du bist also jüdisch, oder?"