Dossier: EMN-Tagung unbegleitete Minderjährige , Datum: 27.07.2018, Format: Dossier, Bereich: Behörde

Deradikalisierungs- und Präventionsarbeit , Datum: 27.07.2018, Format: Meldung, Bereich: Behörde

Drei Männer und eine Frau sitzen auf einem Podium und diskutieren. Die Panel-Teilnehmenden v.l.: Alexander Gesing (IFAK e.V.), Florian Endres (Beratungsstelle Radikalisierung, BAMF), Dr. Michael Kiefer (Universität Osnabrück) und Moderatorin Milena Uhlmann (BAMF-Forschungszentrum) Quelle: BAMF

Spezifische Vulnerabilitäten bei unbegleiteten Minderjährigen

Alexander Gesing vom Beratungsnetzwerk Anschluss des Vereins für multikulturelle Kinder- und Jugendhilfe (IFAK e. V.) aus Nordrhein Westfalen warb zu Beginn um eine differenzierte Sichtweise auf unbegleitete Minderjährige, insbesondere wenn es um Radikalisierung eben dieser geht. Unbegleitete Minderjährige seien nicht nur vulnerabel, sondern kämen mit Motivationen, Fähigkeiten und Interesse nach Deutschland.

Gesing stellte anschließend die Arbeit des Beratungsnetzwerks vor, das mit einem systemischen Ansatz Ratsuchenden zur Seite stehe. Rat suchen häufig Verwandte, Lehrkräfte und Mitarbeitende aus der Sozialen Arbeit. Oft sind Ratsuchende im sozialen Umfeld unsicher oder unwissend, wann es sich bei Verhaltensmustern um gelebte Religiosität und wann um Radikalisierung beziehungsweise wann um Islam und wann um Islamismus handele. Die Beratungsstellen leisten hier laufend entsprechende Aufklärungsarbeit. Hier sei wichtig festzuhalten, dass nur ein geringer Teil der Geflüchteten, um die sich aufgrund einer eventuellen Radikalisierung gesorgt würde, tatsächlich islamistisch radikalisiert seien.

"Bei Fragen von Religion und Radikalisierung gibt es eine große Unsicherheit in der Sozialen Arbeit,“ Alexander Gesing

Als Gründe für eine Radikalisierung identifizierte Gesing mehrere Einflussfaktoren, die sich sowohl auf die Zeit im Herkunftsland und die Fluchtphase als auch auf die Zeit seit der Einreise beziehen, wobei es sich jedoch nur teilweise um fluchtspezifische Faktoren handele. Zu den Einflussfaktoren gehören unter anderem familiäre Konflikte, die Trennung von der Familie, die Sozialisation, psychische Erkrankungen und die Erfahrungen auf der Flucht, fehlende soziale Beziehungen, ein langes Warten auf die Entscheidung im Asylverfahren oder beim Familiennachzug, aber auch die Sinn- und Identitätssuche im Jugendalter. Auch mediale Diskurse können als generelles Misstrauen wirken und verunsichern; ebenso wie ein Gefühl des nicht Angekommen und Angenommen seins. Hier können Rekruteure aus der islamistischen Szene Andockstellen finden, um mit den jungen Menschen in Kontakt zu treten. Sie locken insbesondere mit einfachen Antworten, die den jungen Geflüchteten Halt in einer komplexen Welt geben und gleichzeitig ein Ankommen in Deutschland untergraben.

Sofern sich Hinweise auf eine Radikalisierung bestätigen, sehe der klassische sozialarbeiterische Ansatz zur Deradikalisierung vor, im sozialen Umfeld alternative soziale Beziehungen zu stärken, sei es mit den Eltern, Geschwistern, Lehrkräften oder Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern oder im Sportverein. Dies gestalte sich jedoch gerade bei unbegleiteten Minderjährigen teils als schwierig, da sie mitunter über kein soziales Umfeld in Deutschland verfügen.

Beratungsnetzwerk 'Anschluss' entwickelt neue Strategien für Deradikalisierungsarbeit mit Geflüchteten

Auf diese Herausforderung geht das neue, durch die BAMF-Beratungsstelle "Radikalisierung" finanzierte Pilotprojekt 'Anschluss' ein und entwickelt neue Strategien. Eine Strategie sei es, bereits früher anzusetzen und präventiv zu arbeiten. Hierfür müsse religiös bedingte Radikalisierung aber auch Thema der pädagogischen Ausbildung sein. Fachexpertise müsse in die Fallarbeit mit hinzugezogen werden und auch Religiosität an sich müsse in Jugendgruppen thematisiert werden, gegebenenfalls auch hier mit Einholung von externer Expertise. Mitunter scheuten Beschäftigte in der Sozialarbeit das Thema Religion. Zudem müsste den jungen Zugewanderten auch die Herausbildung einer „transkulturellen Identität“ ermöglicht und sie müssten in ihrer Identitätsfindung gefestigt und bestärkt werden.

Pilotprojekte des BAMF im Bereich Geflüchtete und Radikalisierungsgeschehen

Eine Mann spricht an einem Rednerpult Florian Endres, Leiter der Beratungsstelle Radikalisierung des BAMF Quelle: BAMF

Florian Endres, Leiter der Beratungsstelle „Radikalisierung“ des BAMF, stellte anschließend die Arbeit der Beratungsstelle vor. Diese dient mit ihrer Beratungshotline in der Regel als Erstkontakt für Angehörige oder besorgte Personen aus dem sozialen Umfeld von Personen, bei denen eine Radikalisierung vermutet wird. Die Beratungsstelle des BAMF eruiert in den Erstgesprächen die Lage und leitet die Fälle dort, wo Radikalisierungsgeschehen besteht beziehungsweise weiter abgeklärt werden soll, an eine von neun zumeist von zivilgesellschaftlichen Trägern betriebene Beratungsstellen im gesamten Bundesgebiet weiter. Als grundsätzliche Entwicklung verwies Endres auf ein sinkendes Alter der Personen, aufgrund derer der Kontakt zur Beratungsstelle gesucht wird: Während das Durchschnittsalter früher bei 20 Jahren lag, liegt es derzeit bei unter 18 Jahren. Eine zweite Beobachtung betrifft die Frage der Herkunft von radikalisierten Personen. Es handele sich keinesfalls um ein Problem, das sich auf Flucht- oder Migrationserfahrungen beschränken lasse; vielmehr gehe es in ca. 50 % der Beratungsfälle um Personen, die zum Islam konvertiert sind. Zudem gebe es eine Konzentration der bearbeiteten Fälle in einigen Flächen- und Stadtstaaten, in denen auch die islamistische Szene aktiv sei. Bei sieben bis acht Prozent der bearbeiteten Fälle werde zudem eine psychische Auffälligkeit festgestellt.

"Radikalisierung ist nicht nur ein städtisches Phänomen. Sie kann auch in der Provinz stattfinden.“ Florian Endres

Die Thematik radikalisierter unbegleiteter Minderjähriger nehme insgesamt mehr Raum ein, auch weil beispielsweise salafistische Akteure spezifisch auf diese Gruppe zugehen, um für ihre Gruppierungen und Auslegungen zu werben.

Beratungsstelle "Radikalisierung" ist bundesweite Erstanlaufstelle bei Sorgen bezüglich einer möglichen Radikalisierung

Nach den Anschlägen in Ansbach und Würzburg 2016 habe es einen starken Anstieg an Anrufen bei der Beratungshotline gegeben. Von den insgesamt circa 4.000 Anrufen, die seit 2012 bei der Hotline der Beratungsstelle eingingen, bezogen sich etwa 500 Anrufe auf Geflüchtete, wovon 267 unbegleitete Minderjährige waren. Wiederum die Hälfte wurde zur weiteren Betreuung an das Netzwerk verwiesen. Auch hier zeige sich bei der Überprüfung vor Ort häufig, dass es sich nicht um Radikalisierung handelt, sondern um gelebte Religiosität, die im sozialen Umfeld aus Unwissenheit oder Unsicherheit missinterpretiert wurde.

Umgang der Regelstrukturen mit Radikalisierung

Eine Mann spricht an einem Rednerpult Dr. Michael Kiefer, Institut für Islamische Theologie an der Universtität Osnabrück Quelle: BAMF

Das Thema Radikalisierung gehe mit einer Reihe an Missverständnissen einher, so auch Dr. Michael Kiefer vom Institut für Islamische Theologie an der Universität Osnabrück zu Beginn seines Vortrags. Ganz grundsätzlich sei „Radikalität“ das Produkt eines gesellschaftlichen Aushandlungsprozesses. Eindeutig sei es bei Straftraten oder bei offenkundiger Ablehnung von Verfassungsgrundsätzen. Aber ansonsten bestimme sich Radikalität auch danach „wo sich die Mitte in einer Gesellschaft bildet“. In diesem Aushandlungsprozess kommt es auf vielfältigen Ebenen zu Fehleinschätzungen und -interpretationen.

Gleichzeitig ist eine Klärung des Sachverhalts nicht leicht. Wenn ein Schüler beispielsweise Videos auf Urdu auf dem Handy habe, findet sich im Zweifel keine verantwortliche Person an der Schule, die Urdu spricht und eine fundierte Einschätzung über den Inhalt des Videos geben könne. Auch die Schulsozialarbeit spiele eine wichtige Rolle – etwa als verlässlicher sozialer Bezug –, aber auch hier gebe es immer wieder Herausforderungen. Durch Unterbesetzung und fehlende Ressourcen könne die nachhaltige Erreichbarkeit von Sozialarbeitern an zahlreichen Schulen nicht gewährleistet werden. Auch seien viele Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter an Schulen nicht für das Erkennen von Radikalisierungstendenzen ausgebildet. Im Einzelfall müsse zudem geklärt werden, ob es sich nicht um psychische Erkrankung statt einer religiösen Radikalisierung handele. Das auseinanderzuhalten sei nicht immer leicht. So gibt es laut Dr. Kiefer einen „Parcours von Hindernissen“ in der Deradikalisierungsarbeit, so wie es auch in anderen Bereichen der Jugendarbeit der Fall sei. Es brauche folglich verlässliche Kommunikationsstrukturen zwischen den verschiedenen Akteuren in der Kommune, die Qualifizierung der Sozialarbeitenden müsse sichergestellt werden und die Zuständigkeiten in der Fallsteuerung müssten so geregelt sein, dass jeder Fall von Anfang bis zum Ende im Blick behalten werden kann.

"Ein guter Schulleiter läuft nicht gleich zum Staatsschutz, sondern klärt das erst einmal intern, zum Beispiel mit der Schulsozialarbeit oder wendet sich an eine der Beratungsstellen." Dr. Michael Kiefer

Die wachsende Anzahl abgelehnter Asylantragstellender und die sich damit abzeichnende Perspektivlosigkeit böten zudem einen Nährboden für Radikalisierungstendenzen. „Die Radikalisierer aus der islamistischen Szene sind nicht dumm“, so Dr. Kiefer, „sie können junge Menschen in solchen Lagen gut identifizieren und erreichen.“ Aus Perspektive der Deradikalisierungs- und der Präventionsarbeit seien auch die geplanten AnkER-Zentren abzulehnen, die zusätzlichen Nährboden für eine Radikalisierung bilden würden, so Dr. Kiefer.

Teilnehmende der Tagung sitzen in Reihen und blicken Richtung Podium Teilnehmende der Tagung Quelle: BAMF

In der anschließenden Diskussion mit dem Publikum wurde die Spezialisierung der Jugend- und Präventionsarbeit auf Jugendliche mit Fluchthintergrund kritisiert. Die genannten Gefährdungsfaktoren, die eine Radikalisierung begünstigten, seien schließlich in weiten Teilen identisch mit Einflussfaktoren, die auch bei in Deutschland aufgewachsenen Jugendlichen zu beobachten seien. Die Gefahr bestehe, dass das Label „Deradikalisierungsarbeit im Kontext von Flucht“ stigmatisierend wirken und die allgemeine Panikmache intensivieren könne, so eine Teilnehmerin aus dem Publikum. Sie schlug stattdessen vor, die Deradikalisierungsarbeit grundsätzlich in den Regelstrukturen der Kinder- und Jugendhilfe aufzuhängen und zu stärken. Gesing bestärkte dies – auch er wünsche sich, dass die Jugendhilfe insbesondere für die Arbeit mit Geflüchteten finanziell und personell besser ausgestattet wäre. Dadurch würde eine pädagogische Arbeit teilweise überhaupt erst ermöglicht, sodass eine bessere Ausstattung der Jugendhilfe ebenfalls präventiv wirken könnte, auch wenn die Jugendhilfe üblicherweise nicht unter diesem Label arbeiten würde. Die Podiumsdiskutanten betonten, dass es sich bei den beschriebenen Phänomenen und der Arbeit im Fluchtkontext nur um einen kleinen Teil der Präventions- und Deradikalisierungsarbeit handele und es sich bei gut der Hälfte aller bei der Beratungsstelle "Radikalisierung" gemeldeten Fälle um Konvertitinnen und Konvertiten handele.

Zum Abschluss des Panels erfolgte ein weiterer Appell einer Teilnehmerin. Ihre Beobachtung sei aktuell, dass etablierte Bindungsarbeit aus den vergangenen Jahren durch Einsparungen zunichte gemacht würde, indem Einrichtungen geschlossen und die Bewohnerinnen und Bewohner umverteilt werden, für die das gewachsene soziale Umfeld und die lokalen Strukturen jedoch Sicherheit und Verlässlichkeit bedeuteten. Auch die soziale Arbeit müsse dann andernorts wieder von vorne anfangen und das zu einem Zeitpunkt, wo sich Beschäftigte der Sozialen Arbeit ohnehin im Stich gelassen fühlten und vielfach aus Erschöpfung und Frust die Träger verließen. Auch "die ehrenamtlichen Kräfte, die jahrelang ausgeholfen haben, sind langsam kaputt", so die Teilnehmerin.

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Inhalt

  1. Europäische Zusammenarbeit und Integration
  2. Grenzüberschreitende Zusammenarbeit auf EU-Ebene
  3. Unterbringung, Versorgung und Betreuung
  4. Deradikalisierungs- und Präventionsarbeit
  5. Volljährig – und dann?
  6. Ressourcen, Zeit und Professionalität