Dossier: EMN-Tagung unbegleitete Minderjährige , Datum: 27.07.2018, Format: Dossier, Bereich: Behörde

Unterbringung, Versorgung und Betreuung , Datum: 27.07.2018, Format: Meldung, Bereich: Behörde

Drei Frauen und ein Mann sitzen auf einem Podium und diskutieren. Die Panel-Teilnehmenden v.l.: Antje Steinbüchel (Landesjugendamt Landschaftsverband Rheinland), Ulrike Schwarz (BumF e.V.), Dr. Martha Matscher (Innenministerium Italien) und Moderator Dr. Axel Kreienbrink (BAMF-Forschungszentrum) Quelle: BAMF

Unbegleitete Minderjährige in Deutschland: Zentrale Ergebnisse der EMN-Studie 2018

Das erste Panel wurde von Julian Tangermann, wissenschaftlicher Mitarbeiter der deutschen EMN-Kontaktstelle und Ko-Autor der EMN-Studie zu "Unbegleiteten Minderjährigen in Deutschland", eingeleitet. Er stellte einige zentrale Ergebnisse dieser Studie vor. Der Fokus der Studie liegt auf der Phase nach der Klärung des aufenthaltsrechtlichen Status, also nachdem eine Duldung oder Aufenthaltserlaubnis erteilt oder ein Asylantrag abgelehnt wurde. Dabei behandelt die Studie die Bereiche der Inobhutnahme, Unterbringung, Versorgung und Betreuung, der Integration in Schule und Ausbildung sowie Fragen der Rückkehr, des Verschwindens und der Familienzusammenführung.

Entwicklungen und Herausforderungen in der Jugendhilfe

Eine Frau spricht an einem Rednerpult Antje Steinbüchel, Teamleiterin im Landesjugendamt Landschaftsverband Rheinland Quelle: BAMF

Antje Steinbüchel, Teamleiterin im Landesjugendamt Landschaftsverband Rheinland, ging anschließend auf einige wesentliche Entwicklungen bei der Verteilung, Unterbringung und Betreuung von unbegleiteten Minderjährigen der vergangenen Jahre ein. Entscheidend sei das Inkrafttreten eines bundesweiten Verteilmechanismus zum 1. November 2015 gewesen. Bis dahin galt das Prinzip des Ankunftsortes, wonach das Jugendamt für die Unterbringung von unbegleiteten Minderjährigen zuständig war, in dessen Einzugsbereich eine unbegleitete Minderjährige oder ein unbegleiteter Minderjähriger ankam. Die Ankunft von unbegleiteten Minderjährigen war nicht gleichmäßig auf die Bundesrepublik und die circa 600 Jugendämter verteilt, sondern konzentrierte sich im Gegenteil auf wenige Bundesländer und Kommunen. Dieses System funktionierte solange, wie die Zugangszahlen auf relativ geringem Niveau lagen. Ab 2009 stiegen die jährlichen Zugangszahlen allerdings kontinuierlich an. Während im Jahr 2011 3.482 unbegleitete Minderjährige in Obhut genommen wurden, waren es 2013 bereits 6.584 und 2014 11.642. Die Jugendämter und Kommunen die zu dieser Zeit die meisten jungen Geflüchteten aufnahmen, waren damit schließlich überfordert.

Neues Verteilverfahren hat sich bewährt

Das im Jahr 2015 eingeführte neue Verteilverfahren erfolgte laut Steinbüchel in „der chaotischsten Zeit überhaupt“, als die Fluchtmigration nach Deutschland generell ihren Höhepunkt erreichte. Viele Jugendämter hätten sich sehr kurzfristig auf die Unterbringung und Betreuung von unbegleiteten Minderjährigen einstellen und die Organisation der Verteilung implementieren müssen, was mit anfänglichen Komplikationen und Improvisation verbunden gewesen sei. Zu dem Zeitpunkt habe es auch zahlreiche kritische Stimmen gegeben, die das Kindeswohl durch die Umverteilung gefährdet sahen. Aus Sicht von Steinbüchel habe sich das Verteilsystem letztlich aber bewährt und einige Befürchtungen seien nicht oder nicht in dem befürchteten Maße eingetreten.

"Durch eine riesige Kraftanstrengung der 600 Jugendämter in Deutschland haben wir es am Ende geschafft.“ Antje Steinbüchel

Zum einen werde nur ein Teil der unbegleiteten Minderjährigen seither auf andere Bundesländer weiterverteilt. Zum anderen würden durch das Verteilsystem deutschlandweit alle Kapazitäten der Jugendämter, der medizinischen Dienste, der Schulen und Vereine genutzt. Das System laufe mittlerweile stabil und könnte auch ohne Probleme einen ähnlich starken Zuzug wie in den Jahren 2015 und 2016 meistern: „Das System würde reibungslos funktionieren“, so Steinbüchel.

Rechtliche Entwicklungen und ihre Auswirkungen auf die Arbeit mit und für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge

Eine Frau spricht an einem Rednerpult Ulrike Schwarz, Bundesfachverband unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (BumF) e.V. Quelle: BAMF

Ulrike Schwarz vom Bundesfachverband unbegleitete minderjährige Flüchtlinge e.V. (BumF) hob im Rückblick auf die vergangenen Jahre die schiere Anzahl gesetzlicher Neuregelungen als die zentrale Herausforderung hervor, die unbegleitete Minderjährige tangierten. Seit 2015 habe es 20 Gesetzgebungsverfahren mit Bezug zu unbegleiteten Minderjährigen gegeben, 16 neue Gesetze sind davon in Kraft getreten. Für diejenigen, die mit unbegleiteten Minderjährigen gearbeitet haben, wurde die rechtliche Situation dadurch sehr unübersichtlich und damit auch für die pädagogische Arbeit problematisch, so Schwarz.

"Die Einschränkung des Familiennachzugs für subsidiär Schutzberechtigte ist eine große Herausforderung und erschwert die pädagogische Arbeit." Ulrike Schwarz

Hinsichtlich der Diskussion um die Altersfeststellung plädierte Schwarz für eine Begriffsänderung hin zur ‚Alterseinschätzung‘, da aus Sicht der Jugendhilfe ein Alter nicht ‚festgestellt‘ werden könne. Auch der bereits von Isabela Atanasiu zu Beginn erwähnte neue Praxisleitfaden von EASO hebe hervor, dass ein Alter nicht festgestellt werden könne und bei der Alterseinschätzung von einem Korridor von zwei Jahren ausgegangen werden müsse.

Rechtliche Neuregelungen erschweren pädagogische Arbeit

Hinsichtlich des weitgehend ausgesetzten Familiennachzugs für subsidiär Schutzberechtigte, der auch den Elternnachzug zu unbegleiteten Minderjährigen betrifft, hob Schwarz einige Herausforderungen für die pädagogische Arbeit mit den Kindern und Jugendlichen hervor. Die Kinder und Jugendlichen stünden über soziale Medien weiter in direktem Kontakt mit ihren Angehörigen. In Kombination mit dem eingeschränkten Elternnachzug würden dadurch immer mehr Jugendliche den Wunsch äußern, wieder ins Herkunftsland ihrer Familien zurückzukehren – auch bei Kriegs- und Krisensituationen in der Herkunftsregion.

Die Situation von unbegleiteten Minderjährigen in Italien

Eine Frau spricht an einem Rednerpult Dr. Martha Matscher, Vize-Präfektin im italienischen Innenministerium Quelle: BAMF

Dr. Martha Matscher, Vize-Präfektin im italienischen Innenministerium, erweiterte den Blick auf die Situation von unbegleiteten Minderjährigen in Italien sowie das Phänomen der hohen Verschwindensrate und der Weiterreise in andere Mitgliedstaaten aus Italien. In vielen Fällen bestehe ein Recht auf Familienzusammenführung mit Verwandten in anderen Mitgliedstaaten, jedoch dauern die Verfahren und Absprachen unter den Staaten teils Monate.

"Die Verwaltungswege im Rahmen der Dublin III-Verordnung sind zu kompliziert, viel zu lang und unübersichtlich. Viele unbegleitete Minderjährige machen sich in der Zwischenzeit selbst auf den Weg." Martha Matscher

Es sei den Jugendlichen kaum zu erklären, dass sie über einen längeren Zeitraum an einem Ort in Italien bleiben müssten, um anschließend koordiniert im Rahmen der Familienzusammenführung in ihren gewünschten Zielstaat auszureisen. Die Kinder und Jugendlichen machten sich dann vielfach alleine auf den Weg, insbesondere nach Großbritannien, Schweden, Deutschland oder die Niederlande. Es brauche folglich ein flexibleres System der Weiterwanderung und -verteilung innerhalb der EU, das auch „spontane“ Weiterreisen zu Familienangehörigen oder Kontaktpersonen erlaube. Dies sei auch deswegen von großer Bedeutung weil unbegleitete Minderjährige im derzeitigen System leichter Opfer krimineller Organisationen würden, die ihnen Versprechungen machen und sie anschließend für Zwangsprostitution und Organhandel ausbeuten.

Flexibleres System der Weiterverteilung nötig

Die außergewöhnliche hohe Anzahl an neu ankommenden unbegleiteten Minderjährigen in Italien in den letzten Jahren hat dazu geführt, dass ein neues System der Aufnahme aufgebaut wurde. Eine Veränderung betrifft die Rolle der Gemeinden, die bisher die alleinige Verantwortlichen für die Aufnahme trugen. Das zweistufige System sieht vor, dass die unbegleiteten Minderjährigen nach einer bis zu 30-tägigen Erstaufnahme in die Zweitaufnahme in die Gemeinden verteilt werden, die sich auf freiwilliger Basis zur Aufnahme bereit erklären (sogenanntes SPRAR-System - Aufnahmesystem für Asylbewerber und Flüchtlinge). Das neue zweistufige System müsse sich dabei noch weiter etablieren und es würden fortlaufend Bemühungen angestellt, um die Kapazitäten in beiden Stufen auszubauen. Der dabei verfolgte Leitsatz lautet laut Matscher: "Erhöhung der Plätze in der Erst- und Zweitaufnahme sowie Angleichung der Standards bei der Aufnahme von unbegleiteten Minderjährigen im gesamten Staatsgebiet." Insgesamt lebten Mitte 2018 über 13.000 unbegleitete Minderjährige in Aufnahmeeinrichtungen in Italien.

Die Altersfeststellung wurde italienweit vereinheitlicht und erfolgt mittlerweile durch ein multidisziplinäres Verfahren, bei dem ein Arzt oder eine Ärztin, ein Sozialarbeiter oder eine Sozialarbeiterin, ein Vormund sowie eine Psychologin beziehungsweise ein Psychologe anwesend sein müssen und einen Bericht an das Jugendamt senden. Aus dem Tagungspublikum erfolgte diesbezüglich ein Appell, dass bei der Altersfeststellung die Besonderheit der Fluchtumstände berücksichtigt werden müssten. Kinder und Jugendliche würden durch teils mehrjährige Fluchtwege mehrere Jahre älter aussehen als sie es eigentlich seien. Erst nach einer Weile der Ruhe und des Ankommens würde auch wieder äußerlich sichtbar, dass sie Kinder und Jugendliche sind.

In der anschließenden Diskussion verwies Steinbüchel auf die Wichtigkeit einer engeren europäischen Koordination und auch Informationsvermittlung, da viele Jugendamtsbeschäftigte beispielsweise nicht wüssten, wen sie in anderen Mitgliedsstaaten kontaktieren können, wenn sie Fragen zu möglichen Familienangehörigen dort haben. An sich waren sich die Referentinnen darin einig, dass es eine engere Koordination auf europäischer Ebene insbesondere hinsichtlich der Verteilung auf die und die Familienzusammenführung in den Mitgliedstaaten brauche. Eine generelle Öffnung und eine schnellere Durchführung der Familienzusammenführung zu unbegleiteten Minderjährigen wurde auch in einem Redebeitrag einer Teilnehmerin aus dem Publikum angemahnt, die in ihrer eigenen Arbeit beobachte, dass unbegleitete Minderjährige zunehmend an der Einschränkung verzweifelten.

Teilnehmende der Tagung sitzen in Reihen und blicken konzentriert nach vorne. Einige tragen Kopfhörer oder machen sich Notizen. Teilnehmende der Tagung Quelle: BAMF

Aus dem Publikum wurden die Vertreterinnen aus Deutschland zudem nach ihrer Einschätzung hinsichtlich des Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung von Kindern und Jugendlichen (Kinder- und Jugendstärkungsgesetz – KJSG ) gefragt. Dieses hatte im Juni 2017 den Bundestag passiert, konnte innerhalb der Legislaturperiode jedoch nicht mehr abschließend beschlossen werden. Die Referentinnen gingen davon aus, dass das Gesetz in seiner bisherigen Form nicht in Kraft treten wird und der Entwurf zumindest überarbeitet werden müsse, da dieser unter anderem ein Inkrafttreten am 1. Januar 2018 vorsah und somit die Neuregelungen rückwirkend in Kraft treten müssten, was als unwahrscheinlich erachtet wird. Eine Überarbeitung und Neuabstimmung wurde als die wahrscheinlichere Option erachtet. Derzeit lägen hierzu jedoch keine neueren Erkenntnisse und Entwicklungen vor.

Martha Matscher wurde aus dem Publikum zudem gebeten, die Praxis in Italien näher zu erläutern, die vorsieht, dass die Leitenden von Aufnahmeeinrichtungen auch als temporärere Vormünder der unbegleiteten Minderjährigen fungieren. Aufgrund der hohen Anzahl an unbegleiteten Minderjährigen ist es mitunter in Italien ein langwieriger Prozess, einen Vormund zu benennen. Um diesem Prozess entgegenzuwirken, wurde durch das neue Gesetz festgelegt, dass bis zur Ernennung eines Vormunds die Leitenden der Aufnahmeeinrichtungen dem Minderjährigen bei der Beantragung einer Aufenthaltserlaubnis oder beim Antrag auf internationalen Schutz behilflich sind.

Blätterfunktion

Inhalt

  1. Europäische Zusammenarbeit und Integration
  2. Grenzüberschreitende Zusammenarbeit auf EU-Ebene
  3. Unterbringung, Versorgung und Betreuung
  4. Deradikalisierungs- und Präventionsarbeit
  5. Volljährig – und dann?
  6. Ressourcen, Zeit und Professionalität